Silent Book Club

Happy Hour für Introvertierte

Ruhe Bitte: Der Silent Book Club trifft sich zum Lesen in der Bücherhalle Elbvororte. Foto: Dmitrij Leltschuk
Ruhe Bitte: Der Silent Book Club trifft sich zum Lesen in der Bücherhalle Elbvororte. Foto: Dmitrij Leltschuk
Ruhe Bitte: Der Silent Book Club trifft sich zum Lesen in der Bücherhalle Elbvororte. Foto: Dmitrij Leltschuk

In den Bücherhallen gibt es einen „Silent Book Club“. Man trifft sich dort, um gemeinsam in Stille ein Buch zu lesen. Klingt seltsam, ist in den USA aber schon zum Erfolg geworden. Und hier?

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Ganz hinten links, zwischen den Regalen „LIEBE (Mystery, Romance)“, „Stress“ und „Denkstoff“, steht ein Tisch. Davor – postiert wie eine Eingangskontrolle – ein Schild: „Psst, wir lesen!“

Dieser Hinweis dürfte erst mal nicht allzu sehr überraschen, immerhin befinden wir uns in einer Bibliothek, der Bücherhalle Elbvororte in Blankenese. Nur, heute Abend soll es extra still sein, es trifft sich nämlich, wie jeden Monat, der „Silent Book Club“: ein stiller Buchclub also, bei dem in Gesellschaft gelesen, doch dabei nicht gesprochen wird. Es ist auch kein Buch vorgegeben, alle dürfen ihr eigenes mitbringen. Das hat mit einem klassischen Buchclub (alle haben das gleiche Buch gelesen und diskutieren darüber) nicht viel zu tun. Nein, es ist gar eine Rebellion gegen das klassische – und in den Augen der Anwesenden stressige – Konzept eines herkömmlichen Buchclubs.

Die Rebell:innen, das sind heute fünf Leute am Lesetisch. In der Mitte stehen zwei Kannen heißes Wasser, Teebeutel, Grissini-Stangen, vor allen liegt je ein Buch. Da sitzen Ludger Menke, der Leiter der Bibliothek und außerdem Gründer des stillen Buchclubs, gemeinsam mit seiner Kollegin Pauline Hopf. Im Buchclub sind aber alle per du: Hans und Thomas sind heute das erste Mal dabei. Carolin ist schon letztes Mal hier gewesen, genauso wie Barbara, die Älteste in der Runde.

Lesen in Stille, das klingt nicht wie eine Tätigkeit, für die man seine Wohnung unbedingt verlassen müsste. Es klingt ein bisschen nach fadem Deutschunterricht. Nur, das ist das Überraschende: Die Idee der Silent Book Clubs kommt aus den USA, und dort sind sie mittlerweile ein großer Erfolg. Viele junge Menschen sitzen beieinander, in Bars oder anderen Räumlichkeiten, und lesen einfach nur leise vor sich hin. Ludger Menke hat dieses Konzept, mit dem eine Freundesgruppe im Jahr 2019 in Los Angeles begann und das es mittlerweile in verschiedene europäische Städte geschafft hat, nun in die Bücherhallen geholt. Er findet, es ist eine Aufgabe von Bibliotheken, den Leuten das Lesen zu ermöglichen, sie dafür zu begeistern. Ihm gefällt vor allem der Werbespruch, mit dem sich das Ganze verbreitet hat: „Happy Hour für Introvertierte“.

„Ich bin Ludger“, beginnt Ludger Menke nun die Runde, es ist Donnerstagabend, 18:30 Uhr. Er hat ein Lieblingsbuch mitgebracht: „La Storia“ von Elsa Morante, ein italienischer Klassiker, gerade in neuer Übersetzung erschienen. Das letzte Mal habe er das vor 30 Jahren gelesen.

Neben ihm sitzt Pauline, sie sagt: „Ich lese auf Englisch, weil ich Engländerin bin.“ Mitgebracht hat sie „The Book of Form & Emptiness“ von Ruth Ozeki. Das hat sie schon mal angefangen, aber gleich wieder weggelegt. Nun möchte sie ihm noch mal eine Chance geben.

Dann gibt es noch Hans und Thomas. Thomas hat den zweiten Teil einer Buchserie von Jonathan Stroud dabei, der erste Teil hatte ihm sehr gefallen. Und Hans den „Wendekreis des Krebses“ von Henry Miller, den hat er in einer Bücherkiste auf der Straße gefunden. Der Name des Autors sei ihm bekannt vorgekommen, sagt Hans, aber er weiß jetzt auch nicht, was ihn genau erwartet.

Für das leibliche und geistige Wohl ist gesorgt. Foto: Dmitrij Leltschuk
Für das leibliche und geistige Wohl ist gesorgt. Foto: Dmitrij Leltschuk

Carolin, 25 Jahre alt, war schon mal hier. Sie hat nun ein Buch dabei, das Ludger das letzte Mal gelesen hat, „Demon Copperhead“. Ludger sieht das Buch, lacht und fragt: „Wie kommt es denn dazu?“ Es habe interessant geklungen, als er davon erzählte, sagt Carolin. Pauline interessiert vor allem, warum sie es auf Englisch liest. Carolin sagt: „Das deutsche war viel dicker.“

Als Letzte stellt sich Barbara vor. Sie habe mal wieder ein Buch mitgebracht, das sie noch nicht angefangen habe. Auf dem Buchcover ist ein rosa Elefant, so heißt es auch, geschrieben von Martin Suter.

Dann beginnt die stille Lesezeit, eine Stunde, Ludger Menke stoppt die Zeit. Er sei ein „Freund des Entschleunigtseins“, hat er vorher erzählt. In einer Zeit, die sehr laut, sehr voll, sehr hektisch sei, da wäre die Stille ab und zu ganz schön.

So still ist der Silent Book Club aber gar nicht. Ein Fenster in der Bibliothek ist gekippt, von draußen fließen immer wieder Geräusche hinein. Hans kratzt ab und zu mit seinem Bleistift über die Bücherseite, um etwas zu markieren, Thomas wippt mit dem Fuß. Ab und zu läuft jemand über den Teppichboden der Bibliothek, gerade schlurft ein Mann durch die Science-Fiction-Abteilung. Und regelmäßig rascheln Seiten, wenn sie umgeschlagen werden.

Alle haben ihr Buch auf ihren Beinen vor sich liegen, den Kopf nach unten gekippt, nur Pauline nicht, die sitzt aufrecht, hält das Buch leicht nach oben, ihre Brille hat sie auf dem Kopf nach hinten geschoben. Es braucht nur ein paar Sekunden, dann wirken alle, als nähmen sie die Umwelt nicht mehr wahr, sind versunken in ihre Bücher. Mal nippt jemand an der Teetasse, doch ansonsten bleibt ihr Blick immer im Buch. Es wird so lange gelesen, bis Ludger Menke die Gruppe um 19:44 Uhr wieder zurückholt. So leise und vorsichtig, als würde er die anderen gerade aus einem Trancezustand holen, flüstert er in die Runde: „Die Stunde ist langsam um.“ Dann legen alle ihr Buch weg, Hans streckt seine Arme und Beine weit von sich.

Jetzt löst sich die Stille auf, und langsam wird deutlicher, wieso das hier eine soziale Aktivität ist, warum die Teilnehmer:innen sagen, es sei schön, unter Menschen zu sein, obwohl alle nur alleine vor sich hin lesen. Als Barbara von den ersten Kapiteln von Martin Suters „Elefant“ erzählt, lernt man gleich noch etwas über sie: Barbara verbindet die Motive in der Geschichte mit ihrer eigenen, erzählt, dass ihr Vater einst Wissenschaftler war oder dass sie gerade ein Ehrenamt begonnen hat. Carolin erzählt den Inhalt sehr detailliert; Pauline meint, sie habe schon sehr gekämpft mit diesem Buch, gebe aber noch nicht auf. Thomas hingegen ist sehr zufrieden; Hans sagt, sein Buch sei wie ein Fiebertraum geschrieben. Er hätte nicht damit gerechnet, dass es darin so viel um Sex gehe, er musste dann auch mal nachsehen, von wann das Buch ist (aus dem Jahr 1934) – so seltsame Formulierungen kämen darin vor. Er sagt: „Ich finde das Buch eigentlich ganz cool, ich check‘s nur noch nicht so ganz.“ Gegen 20 Uhr verabschieden sie sich, Barbara und Carolin gehen gemeinsam zur S-Bahn, Hans sieht sich noch ein bisschen zwischen den Büchern um, Ludger und Pauline räumen die Teetassen weg. In einem Monat werden sie wieder hier sitzen und einfach nur lesen.

Artikel aus der Ausgabe:

Ist das Heimat?

Was Heimat für unsere Verkäufer:innen bedeutet, wieso Heimatvereine als Gegengewicht zum Senat galten und was am Heimat-Begriff kritisch ist, erfahren Sie im Schwerpunkt. Außerdem: Spatzen von St. Pauli und ukrainische Kids auf dem Skateboard.

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Autor:in
Anna-Elisa Jakob
Anna-Elisa Jakob
Ist 1997 geboren, hat Politikwissenschaften in München studiert und ist für den Master in Internationaler Kriminologie nach Hamburg gezogen. Schreibt für Hinz&Kunzt seit 2021.

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