Egal, ob er gerade aufgestanden ist oder sich endlich schlafen legen möchte – Hinz&Künztler Vasile verspürt Stress. Dabei hat er als Obdachloser gar keine Termine. Dafür aber ein Ziel: überleben.
Es ist 17.47 Uhr. Der Abend bricht herein und das Thermometer zeigt fünf Grad an, als Vasile begreift, dass er wieder im Freien schlafen wird. „Warum bekomme ich kein Bett?“, brummelt der Obdachlose vor sich hin und zündet sich eine Selbstgedrehte an. Kopfschüttelnd stapft er vom ehemaligen „Plaza Inn Hotel“, das heute als städtische Notunterkunft dient, zurück zur Bahnstation Billwerder-Moorfleet. Rund eine Stunde hat der 56-Jährige mit rund 50 anderen Menschen in der Kälte Schlange gestanden. Doch als der gebürtige Rumäne schließlich an der Reihe ist, heißt es: „Wir sind voll. Kein Platz.“
Heute ist der 7. November – vier Nächte zuvor waren die Temperaturen erstmals unter den Gefrierpunkt gefallen – und wie jedes Jahr stellt die Stadt seit Monatsanfang Notschlafplätze für Obdachlose bereit. 400 in einem ehemaligen Bürohaus in Hammerbrook. 300 weitere in dem einstigen Billighotel, an dessen Eingang Vasile soeben abgewiesen wurde – obwohl nur hinter wenigen Fenstern Licht brennt. Eine Sprecherin des städtischen Unterkunftsbetreibers Fördern & Wohnen wird später gegenüber Hinz&Kunzt erklären, man halte 60 Einzelzimmer für Härtefälle zurück. Somit sind an diesem Abend tatsächlich nicht alle Betten belegt gewesen. Die Unterkunft war aus Sicht von Fördern & Wohnen aber dennoch „voll“. Wer abgewiesen werde, so die Sprecherin weiter, könne aber in der zweiten Großunterkunft in Hammerbrook schlafen. Beide Standorte seien gleichwertig: „Sie bieten nachts Schutz und Wärme.“ Über das Hotel sagt sie, dass es lediglich attraktiver „wirkt“.
Alles andere als romantischer Campingurlaub
Vasile sieht das anders: In Hammerbrook werde er nur dann wieder Schutz suchen, wenn er es draußen nicht mehr aushalte. Seine Erfahrung mit dem Standort: betrunkene Zimmernachbarn, Gewalt und Diebstähle. „Zu viel Stress“, sagt Vasile. Auf dem Weg zum ehemaligen Hotel hatte er sich bereits festgelegt: „Hotel oder Straße“. In der Warteschlange wurde Vasile immer stiller. Die Anspannung stieg. Jetzt – mit einem Laufzettel zur anderen Unterkunft in der Hand – geht sein Blick ins Leere. Während er zurück zur Bahnstation trottet, atmet er schwer und steckt sich eine Kippe nach der anderen an.
Auf dem Bahnsteig bleibt Vasile gleich vorne stehen. Im ersten Wagen nimmt er Platz. Von dort aus beobachtet er während der Einfahrt der S-Bahn stets die Bahnsteige. „Wenn Kontrolleure, ich steige aus“, sagt er in leicht gebrochenem Deutsch. Er fahre immer ohne Ticket. Auch nachdem er vor etwa vier Jahren deswegen 60 Tage hinter Gittern verbrachte. Es gehe nicht anders, sagt Vasile: „Kein Geld.“ Obwohl er heute auf einem Gruppenticket mitfahren darf, blickt er nervös aus dem Fenster, als sich der Zug dem nächsten Bahnhof nähert. Darauf angesprochen, muss auch Vasile lachen. Zum ersten Mal an diesem Abend.
„Warum bekomme ich kein Bett?“
Hinz&Künztler Vasile
Es ist nicht die Angst vor einem Bußgeld, sondern die vor einer Ausweiskontrolle, die Vasile umtreibt. Sein Pass wurde ihm gestohlen. Neue Papiere müsste er in der Heimat beantragen. Das würde ihn Hunderte Euro kosten, schätzt Vasile. Fahrt- und Verwaltungskosten und schließlich noch weitere Ausgaben für den Aufenthalt, weil er bis zur Ausstellung der Papiere mindestens einige Tage, wenn nicht gar Wochen in der ehemaligen Heimat verweilen müsse. Dort habe er weder Familie noch Freunde, die ihn beherbergen könnten. Und Arbeit gebe es für ihn schon mal gar nicht.
Auch knapp 20 Jahre nach dem Beitritt zur Europäischen Union zählt Rumänien zu den ärmsten Ländern der Allianz. Zugleich wird Rumänien mit dem Donaudelta, den Karpaten im Norden und der Schwarzmeerküste im Süden ein immer beliebteres Reiseziel. Der an Moldawien grenzende Osten des Landes – auch als Armenhaus Europas bezeichnet – ist den meisten Reiseführern keine zwei Seiten wert. Und genau dort wurde Vasile vor 56 Jahren geboren. Er habe nach der Schule auf dem Bau gejobbt, früh geheiratet und sei Vater geworden, sagt der kräftige Mann, der seit sechs Jahren in Hamburg auf der Straße lebt. Auch damals schon habe er immer zu wenig Geld gehabt. Deswegen tat er es vielen Landsleuten gleich und ließ für die Arbeit Frau und Kind allein in der Heimat zurück.
Etwa drei Millionen Rumän:innen leben aktuell im europäischen Ausland. So wie Vasile, der jahrelang auf Baustellen jobbte. Er habe geholfen, Hotels im Süden Spaniens zu errichten. Später in Amsterdam und schließlich in Hamburg auf dem Bau gearbeitet. Fast immer waren seine Vorarbeiter Landsleute. Niemals erhielt er einen Arbeitsvertrag. Schwarz auf die Hand gab es aber immer „gutes Geld“, sagt Vasile, der stets eine Wohnung oder zumindest ein Zimmer hatte – bis ihn vor etwa sieben Jahren zwei Schicksalsschläge aus der Bahn warfen.
Zumindest am ersten trägt er wohl eine Mitschuld. Denn während sich Vasile im Ausland verdingte, wurden seine Heimatbesuche immer seltener. Schließlich meldete sich seine Frau. Sie werde sich trennen und mit dem gemeinsamen Sohn zu ihrem neuen Partner nach Spanien ziehen. Vasile war geschockt. Er, für den der Alkohol längst zum Alltag gehörte, ertränkte seine Trauer. Auf der Arbeit gab es erste Probleme. Dann ereilte ihn ein Schlaganfall.
„Zu viel Stress, machen Schlaganfall“, sagt Vasile. Innerhalb weniger Wochen brach seine Welt zusammen. Er konnte nicht arbeiten. Hatte keinen Versicherungsschutz. Und zurück in die Heimat zu gehen, das war für ihn keine Option mehr: Wer sollte ihm dort helfen? Vasile landete auf der Straße und schließlich bei Hinz&Kunzt. Seit sechs Jahren verkauft er inzwischen das Magazin. Er hat sich gefangen. Sein Verkaufsplatz ist in Reinbek. Die Kund:innen dort unterstützen ihn, sagt Vasile. Bei einem darf er sogar regelmäßig seine Kleidung waschen.
Nur das Geld, das sei immer knapp. Vasile gibt es für Tabak, Essen und Alkohol aus. Hinzu kommen hohe Kosten für die vielen Medikamente, die er seit seiner Erkrankung nehmen muss. Deswegen sammelt er auch Pfandflaschen. So gut es eben geht, mit einem seit dem Schlaganfall kaum funktionstüchtigen rechten Arm.
Jetzt, da er weiß, dass ihm an diesem Abend kein Kontrolleur etwas kann, wirkt Vasile gelöst. Die Sätze sprudeln wie aus einem Wasserfall aus ihm heraus. Als sich die Bahn dem Stadtzentrum nähert, wird er still. Am Hauptbahnhof verlässt der Rumäne schließlich die S-Bahn. Er wolle noch Bekannte treffen. Trinken. Reden. Sagt Vasile und wirkt müde. Erst spät in der Nacht wird der Obdachlose versuchen, Schlaf zu finden.
Seit bald sechs Jahren lebt Vasile unter einer der rund 2500 Brücken, die es in Hamburg gibt. Seinen Schlafplatz teilt er sich mit zwei Landsleuten. Vom „Bett“, einer alten, mit Stofffetzen überzogenen Schaumstoffmatte, blickt er auf einen Kanal und viel Grün. Die Bäume sorgen dafür, dass die Platte der Obdachlosen nur vom Wasser aus einsehbar ist. Ein fast perfektes Versteck. Der Beton über ihren Köpfen schützt sie zudem vor Regen. Aber nicht vor Kälte und ungewollten Gästen. „Ratten gehören zur Familie“, sagt Vasile mit einem schiefen Grinsen, als er wenige Tage zuvor seine „Platte“ präsentiert.
Ob er nachts keine Angst habe? Vasile verneint. Zugleich räumt er ein, dass er sich nie ausgeschlafen fühle. Es ist ein milder Freitagmorgen, an dem Vasile und sein Plattenkumpel Danielle gegen acht Uhr in den Tag starten. Kaffee? Fehlanzeige. Es gibt zwar einen Gaskocher. Aber die beiden Rumänen machen keinen romantischen Campingurlaub. Er könne sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal richtig gefrühstückt habe, sagt Vasile. Immerhin: Im Kanal spült er sich kurz die Hände ab. Die Kleidung hingegen bleibt so lange an seinem Körper, bis er in einer Tagesaufenthaltsstätte duschen und sie wechseln kann.
Die beiden Obdachlosen brauchen fast eine Stunde, um auf die Beine zu kommen. Schließlich sagt Vasile, dass er neue Magazine bei Hinz&Kunzt holen müsse. Ein Schleichweg führt von ihrem Schlafplatz zurück in den morgendlichen Trubel der Stadt. Auf den Bürgersteigen eilen Menschen zu ihren Arbeitsplätzen. Abgabetermine, Besprechungen und andere Verpflichtungen im Kopf. Viele von ihnen träumen vermutlich davon, mal keine Termine zu haben, nicht zu wissen, was morgen ansteht. Vasile und sein Kumpel Danielle hingegen wissen nicht einmal, was die nächsten Stunden bringen werden. Das Leben auf der Straße sei „Überleben“, sagt Vasile. Er hoffe, später einige Magazine zu verkaufen. Danielle will erst mal Pfandflaschen finden.
Nicht zu wissen, ob er an Geld kommt. Wann es Essen gibt. Wo er sicher schlafen kann. Oder auch nur die Suche nach einem Ort, an dem er sein Handy aufladen kann. Das alles bedeutet für ihn Stress, sagt Vasile, nachdem er bei Hinz&Kunzt neue Magazine erworben hat. Dort gab es zur Begrüßung für ihn den ersten Kaffee am Tag. Jetzt will er mit der Bahn weiter nach Reinbek – an seinen Verkaufsplatz. Für ihn ein Wohlfühlort, weil er tatsächlich nur hier auch Zuspruch erfährt.