Stressforscherin Ulrike Ehlert über die Weihnachtszeit, positiven Stress und den Weg zu guten Hilfen.
Hinz&Kunzt: Frau Ehlert, Weihnachten steht vor der Tür und viele Menschen fühlen sich gestresst davon. Wie kommt das?
Ulrike Ehlert: Weil die Menschen sehr hohe Erwartungen an diese Zeit haben. Das Jahresende bedeutet für viele eine Zäsur, da sollen etwa im Job Dinge fertig werden. Manche empfinden diese Wochen auch als Belastung, weil sie sich einsam fühlen. Oder weil sie sich nicht um andere kümmern können, obwohl sie das gerne tun würden. Und dann gibt es diejenigen, meist zwischen 30 und 50, die Kinder haben, anspruchsvolle Angehörige und ein traditionelles Idealbild von Weihnachten. Sie müssen sehr viele Normen erfüllen. Hinzu kommt: Die Ansprüche, die viele an Weihnachten haben, muss man auch finanzieren können – in wirtschaftlich wackeligen Zeiten.
„Stress ist individuell und hängt nicht unbedingt vom Einkommen ab.“
Was können wir gegen den Weihnachtsstress tun?
Zum Beispiel Vorgesetzte fragen, ob Arbeiten nicht ins nächste Jahr verschoben werden können. Oder überlegen, ob die goldfarbenen Äpfel tatsächlich selbst gebastelt sein müssen oder ob eine einfachere Dekoration nicht auch ausreicht.
Und wenn mich Einsamkeitsgefühle plagen?
Dann ist diese Zeit eine gute Gelegenheit, über alte Freundschaften nachzudenken. Sich mal wieder zu melden bei der einen oder dem anderen.
Stress scheint in unserer Gesellschaft immer bedeutsamer zu werden. Können Sie das aus wissenschaftlicher Sicht bestätigen?
Nein. Wir erleben heute andere Arten von Stress als die Menschen früher. Uns stressen Informationsfluten und Selbstverwirklichungswünsche. Vor 100 Jahren hatten die Leute keine Waschmaschine. Frauen waren wirtschaftlich meist von Männern abhängig, und die Behausungen waren im Winter oft eiskalt. Kältestress kann enorm sein: Wenn Sie mit Erfrierungen herumlaufen, ist das anderer Stress als der, den wir heute haben.
Haben Menschen, die in Armut leben müssen, grundsätzlich mehr Stress als Wohlhabendere?
Nein. Das Empfinden von Stress ist individuell und hängt nicht unbedingt vom Einkommen ab. Wohlhabende Menschen versuchen etwa, sich in einem extrem unrealistischen Ausmaß selbst zu verwirklichen, und stressen sich damit. Oder machen Dauer-Selbstoptimierung, nach dem Motto: Du musst ständig Sport machen und fünf Portionen Gemüse am Tag essen. Die Frage ist: Als wie bedrohlich empfinde ich die Situation, und welche Möglichkeiten habe ich, ihr zu begegnen?
„Fast alle Menschen, die gestresst sind, sind ziemlich gereizt.“
Sie würden also sagen, der selbstgemachte Stress eines Wohlhabenden, der es nicht jeden Tag ins Fitnessstudio schafft, kann genauso groß sein wie die Angst, seine Miete nicht bezahlen zu können?
Wissenschaftlich betrachtet macht das keinen Unterschied. Bei beiden Personen führen die Gedanken, die sie sich machen, dazu, dass der Körper in einen überaktivierten Zustand versetzt wird. Damit geht eine hohe Freisetzung von Stresshormonen einher, die sich auf Dauer als gesundheitsschädigend erweisen kann.
Gibt es auch positiven Stress?
Ja. Ein Beispiel: Sie haben Gäste eingeladen und wollen ein sehr kompliziertes Gericht kochen. Das kann Sie stressen, etwa weil Sie nicht geahnt haben, wie viel Aufwand Sie dafür betreiben müssen. Aber wenn alle am Tisch sitzen und sagen „Superlecker!“, dann verwandelt sich Ihr Stress ins Positive, weil es geklappt hat.
Positiver Stress kann nur im Nachhinein entstehen?
Nein. Ein Mensch mit Kontaktschwierigkeiten kann schon während seines Besuchs auf einer großen Party feststellen, dass es gar nicht so schlimm ist, wie er es erwartet hat.
Ist positiver Stress „gesünder“ als negativer?
Ja, weil die Stressbewertungen zu unterschiedlichen – guten oder schlechten – Gefühlen führen und der „Hormonmix“, der bei positivem oder bei negativem Stress freigesetzt wird, unterschiedlich gesundheitsfördernd ist.
Und woran merke ich, dass ich dringend etwas tun muss gegen meinen Stress?
Körperlich daran, dass Sie schlecht einschlafen, oft und früh aufwachen. Rücken- und Kopfschmerzen sowie Verdauungsstörungen können Zeichen sein. Und: Fast alle Menschen, die gestresst sind, sind ziemlich gereizt.
Inzwischen leben ganze Wirtschaftszweige davon, Stress tatsächlich oder vermeintlich zu bekämpfen.
Das Gute daran ist: Viele Menschen wissen inzwischen, dass es nicht gut für sie ist, wenn sie über längere Zeit gestresst sind. Es ist auch gut, dass es Angebote wie Yoga, Entspannungsgruppen oder Coachings gibt. Entscheidend ist die Qualität, und da gibt es große Unterschiede. Wenn ich mir Profihilfe suchen würde, würde ich mir die Qualifikation der Leute sehr genau anschauen.
Zum Abschluss: Was ist der Schlüssel für ein möglichst stressfreies Leben?
Schrauben Sie die Erwartungen herunter, an sich und an die anderen. Nehmen Sie die Dinge auch mal, wie sie sind, lassen Sie Gelassenheit walten. Das hilft. •