Schwerpunkt Stress

Gute Energie für alle

„Yoga hilft“-Lehrerin Andrea Schoof (Zweite von links) leitet die Stunde an. Foto: Dmitrij Leltschuk

Mitten im Münzviertel lädt der Verein „Yoga hilft“ obdachlose und sozial benachteiligte Menschen ein, ihre innere Mitte zu finden – kostenlos und ohne Leistungsdruck.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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In den Yoga-Dress schlüpfen, Matte ausrollen und durchstarten mit dem ersten Sonnengruß? Da wäre Martina gleich raus. Oder eher: Sie wäre gar nicht erst rein. Die 60-Jährige sitzt im Rollstuhl, kann ihre Beine kaum bewegen. Und doch geht sie seit gut einem Jahr jeden Donnerstag zum Yoga. Um zu sich zu kommen, die Last ihres Lebens – sie hat viele Jahre obdachlos auf der Straße verbracht – leichter zu nehmen. „Man kann hier alles vergessen“, sagt sie. Beim „Yoga für alle“ fühlt sich Martina willkommen, so wie sie ist.

„Schön, dass ihr da seid“, sagt Yoga-hilft-Lehrerin Andrea und lächelt in die Runde. Lobo lächelt zurück, er war schon Anfang 2023 dabei, als der Kurs neu war. Dorsy, eine ältere Ukrainerin, ist zum ersten Mal gekommen. Und auch die Organisatorinnen des Kurses machen mit: Katy Thompson, eine der Leiterinnen der Bildungseinrichtung Schulhafen der Hoffnungsorte Hamburg, und Cornelia Brammen, Gründerin des Vereins Yoga hilft. Auch sie werden mit Vornamen angesprochen, beim Yoga sind alle per Du.

„Wir gehen zu denen, die nicht am LifestyleYoga teilnehmen können.“ Cornelia Brammen

„Wenn du möchtest, schließe deine Augen“, sagt Andrea. „Und versuch mal, auf deinen Atem zu achten.“ Behutsam lässt sie die Teilnehmenden ankommen, mit dem Körper, dann mit dem Geist. Alle sollen selbst entscheiden, was sie mitmachen, und niemand soll sich bewertet fühlen. „Alles, was du empfindest, darf sein.“

Draußen rattert die S-Bahn über das Münzviertel hinweg, im sonnengefluteten Raum des Schulhafens erklingt ein Mantra. Matten brauchen die Yogis und Yoginis hier nicht, der Kurs findet im Sitzen statt. Auch Martina hat sich auf einen Stuhl gesetzt. Aber als Andrea die nächste Übung anleitet – die gefalteten Hände zwischen den Beinen zum Boden führen wie ein abtauchender Fisch –, sagt Martina: „Kann ich nicht.“ Dann versucht sie es doch. Und als die anderen die Fersen heben und senken, hebt und senkt sie die Schultern. „Ja, das geht auch“, sagt Andrea. „Und dann bringe die Arme lang nach oben …“ „Das kann ich!“, ruft Martina.

Genau darum geht es beim sozialen Yoga, erklärt Cornelia, die mit ihrem Verein deutschlandweit Yoga anbietet – auch für Geflüchtete, für Senior:innen, für psychisch erkrankte Menschen oder in Gefängnissen. „Wir gehen zu denen, die nicht am Lifestyle-Yoga teilnehmen können“, erklärt sie. Yoga helfe niedrigschwellig: kein Dresscode, kein Leistungsdruck wie in manchen Studios. All das seien Barrieren für Menschen, die weniger Geld, Fitness oder Selbstvertrauen haben. Doch gerade ihnen könne das Yoga helfen, wenn es sensibel angeleitet werde.

Die Yoga-hilft-Lehrer:innen werden dafür extra geschult, erklärt Cornelia: Alle hätten eine Fortbildung zum Thema „Yoga und Trauma“ absolviert, zudem veranstaltet der Verein interne Schulungen zu gewaltfreier Kommunikation. Und, ganz wichtig: „Wir fassen nicht an.“ Niemand soll sich korrigiert fühlen, erklärt die Vereinsgründerin.

Draußen auf der Straße klirren Pfandflaschen in einer Tüte. „… und alle Geräusche, die du hörst, dürfen da sein“, sagt Andrea. Lobo hört ihr mit geschlossenen Augen zu. „Wenn du merkst, die Gedanken wandern in die Vergangenheit, in die Zukunft, dann versuch, sie zurückzuholen.“ Lobo ballt seine Hände zu Fäusten, dann lässt er locker. „Ich bin ein sensibler Mensch und sehr impulsiv“, erklärt er später. Früher habe er in einem Verein Yoga geübt, doch dann erkrankte er am Herzen, lag sogar im Koma. „Das war eine sehr schwere Zeit für mich“, erzählt Lobo. Yoga habe ihm geholfen. „Hier lerne ich, positiv zu denken.“

Auch Dorsy nutzt das Yoga, um ihre Energie wieder aufzuladen, wie sie sagt. Ihr Alltag verlangt ihr viel Kraft ab: Nach der Flucht aus der Ukraine ist sie in Hamburg ohne Dach über dem Kopf, verbringt die Abende so lange wie möglich in Cafés und die Nächte, so erzählt sie, an Bahnhöfen. Dass das Yoga im Schulhafen kostenlos ist, bedeutet ihr viel. In anderen Kursen sei sie oft eingeschlafen, sagt sie. „Sie lassen dich schlafen, aber bezahlen musst du trotzdem.“

Ob sie beim nächsten Mal wiederkommt? Dorsy sagt, sie sei auf der Durchreise. Martina wird da sein, der Kurs gehört zu ihrem Leben wie der Minijob, mit dem sie ihre Grundsicherung aufbessert, und der Fernsehabend mit ihrer Freundin. Auch Lobo nimmt positive Energie mit nach Hause. Und wenn ihn nachts Sorgen plagen, sagt er, dann wird er tief einatmen, ausatmen – und zurückkehren in seine innere Mitte.

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 382

Entspannt euch!

Wie stressig die tägliche Suche nach einem Schlafplatz ist, zeigt ein Tag mit dem obdachlosen Hinz&Kunzt-Verkäufer Vasile. Außerdem in unserem Schwerpunkt zum Thema Stress: Wir haben mit Forscherin Ulrike Ehlert darüber gesprochen, was gegen Stress hilft. Und Entspannungskurse auch armen Menschen zugänglich zu machen, versucht der Verein „Yoga hilft“.

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Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.