Ex-Obdachlose Xenia Brandt

Witze machen übers Trauma

Macht Witze über ihre Vergangenheit: Xenia Brandt als Comedian auf der Bühne. Foto: Mauricio Bustamante
Macht Witze über ihre Vergangenheit: Xenia Brandt als Comedian auf der Bühne. Foto: Mauricio Bustamante
Macht Witze über ihre Vergangenheit: Xenia Brandt als Comedian auf der Bühne. Foto: Mauricio Bustamante

Mit 14 Jahren schlief Xenia Brandt das erste Mal auf der Straße. Als Punkerin machte sie lange Platte auf St. Pauli. Heute lebt die 32-Jährige in einer Wohnung, hat einen Job – und macht Comedy.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Eine junge Frau mit schwarz geschminkten Augen läuft auf die Bühne. „Hey, Leute, habt ihr Bock?“, fragt sie ins Publikum. Xenia Brandts breites Grinsen wirkt ansteckend. Sofort demonstriert ihr die Menge in der ausverkauften „Mathilde Bar“ in Ottensen, wie sehr sie gefüllt ist mit Bock: Sie applaudiert, jubelt. Das Publikum ist gekommen, um zu lachen – und zwar über Witze mit Niveau. Xenia eröffnet den „Smash Comedy Open Mic“-Abend – eine queerfeministische Comedy-Show.

„Wenn man mich früher gefragt hat, was ich mal werden will?“ Xenia zieht schelmisch die Augenbrauen hoch und lässt das Publikum einen Moment lang auf die Antwort warten. „Reich“, sagt sie dann. Das Publikum lacht, viele nicken, scheinen einst den gleichen Traum gehabt zu haben. Nach einer Kunstpause fügt die 32-Jährige hinzu: „Dass ich dann später mal auf der Straße schlafe und Pfandflaschen sammle, habe ich da noch nicht geahnt.“

„Alkohol hat mir geholfen gegen die Sorgen.“

Xenia Brandt

Worüber Xenia auf der Bühne Witze macht, ist ihre eigene Vergangenheit. Viele ihrer Gags haben einen ernsten Hintergrund und berühren, doch sie schafft es, das Publikum zum Lachen zu bringen.

Obdachlos sei sie geworden, weil sie es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe. Ihre Familie habe ihr nämlich immer deutlich gezeigt, dass sie seltsam sei und ihr vermittelt: „Das erste Kind ist wie der erste Pfannkuchen. Völlig misslungen, aber doch zu schade, um ihn wegzuschmeißen.“

Eine Woche später. Unter der Kersten-Miles-Brücke auf St. Pauli parken Busse von Tourist:innengruppen. Xenia steht auf dem Gehweg, der unter der Brücke hindurchführt, und schaut in Richtung Hafen. Links von ihr geht es bergab und hinein in eine Ansammlung von aufgeschichteten Findlingen. Xenia zeigt auf die großen Steine und sagt: „Hier habe ich geschlafen.“ Damals war das Kopfsteinpflaster noch ebenerdig. Heute kann hier niemand mehr übernachten. Dafür sorgte 2015 das Bezirksamt Mitte.

Eineinhalb Jahre lang hat Xenia hier Platte gemacht, gemeinsam mit anderen jungen Punks. Das ist 14 Jahre her. Anfang 2010 berichtete die „Bild“-Zeitung abfällig über die Gruppe (siehe Hinz&Kunzt Mai 2010). Danach veränderte sich das Leben unter der Brücke. „Das hat viele Leute angelockt. Die haben Böller geworfen und Flaschen“, erinnert sich Xenia. „Einmal hat mir jemand auf den Schlafsack gepisst, als ich drin lag.“ Sie schüttelt sich, als wolle sie diese Erinnerung loswerden. „Da war ich richtig verzweifelt.“

Eines Morgens sei die Gruppe von Polizei und Ordnungsamt geweckt und weggeschickt worden. „Ich weiß noch, wie ich danach erst mal am Hauptbahnhof geschlafen habe. Es hat in Strömen geregnet. Ich wusste nicht, wohin“, sagt Xenia. Sie versuchte es in einer Notschlafstätte für Frauen, doch da waren keine Betten mehr frei. Dann ging sie ins Winternotprogramm für Obdachlose. Doch dort fühlte sie sich so unwohl, dass sie noch in der Nacht wieder ging. „Ich war ganz allein unter Hunderten von Männern. Und ich war ein junges Mädchen.“

Bereits mit 13 Jahren trug Xenia blaue Haare und zerrissene Strumpfhosen. Freiheit und ein Verbundenheitsgefühl hatte sie im Punk gefunden. Ihre Familie habe ihr das nie gegeben. „Sie war streng. Es gab Gewalt“, sagt sie knapp. Damals vertraute sie sich ihrem Lehrer an, der sie in ein Kinderheim begleitete. Doch dort konnte sie nicht bleiben, weil es keinen Platz gab. „Zurück nach Hause war keine Option für mich“, sagt sie. Deswegen packte sie mit 14 Jahren ein paar warme Klamotten in ihren Schulranzen, griff einen Schlafsack und verließ ihre Heimat Luxemburg.

Sie fuhr nach Köln, in die nächstgelegene Großstadt. „Ich war schüchtern“, erinnert sich Xenia. „Doch ich wusste, dass ich es nicht allein schaffen konnte.“ Deshalb suchte sie nach anderen Punks. Auf der Domplatte fand sie Gleichgesinnte, die sie bei sich aufnahmen.

Nachts neben fremden Menschen zu schlafen, traute sie sich aber noch nicht. „Ich musste das erst mal mit mir selbst ausmachen.“ Sie kletterte über den Zaun eines Friedhofs. Denn sie wusste, dass der nachts abgeschlossen wurde und sie dort sicherer war als an öffentlichen Orten. Die erste Nacht draußen habe sie nie vergessen. „Es war saukalt, und ich hatte riesige Angst.“ Morgens ging Xenia zurück zu den anderen Punks und bettelte mit ihnen.

Vier Jahre lang reiste sie durch Deutschland, schloss sich immer wieder anderen Punks an. Sie schlief in besetzten Häusern und unter Brücken. Manchmal fühlte sie sich wie eine Abenteurerin. „Aber ich hatte oft Angst“, sagt sie heute. „Zum Beispiel musste ich mir jeden Monat überlegen: Was mache ich, wenn ich meine Tage kriege?“ Dann brauchte sie noch mehr Geld, um Binden oder Tampons zu kaufen. „Wenn das nicht klappte, musste ein altes Stück Stoff reichen.“

Mit 16 Jahren hielt sie das Leben auf der Straße nicht mehr ohne Alkohol aus. „Der hat mir geholfen gegen die Sorgen“, sagt sie. „Doch je älter ich wurde, je länger ich auf der Straße war und je mehr man mir meine Sucht anmerkte, desto weniger Geld bekam ich beim Betteln.“ So wurde es für sie immer schwerer, sich zu versorgen.

Unter der Kersten-Miles Brücke-hat Xenia Brandt Platte gemacht. Heute verhindern dicke Findlinge, dass hier Menschen übernachten können. Foto: Mauricio Bustamante
Unter der Kersten-Miles Brücke-hat Xenia Brandt Platte gemacht. Heute verhindern dicke Findlinge, dass hier Menschen übernachten können. Foto: Mauricio Bustamante

„Manchmal rief ich bei meinen Eltern an, um zu sagen, dass ich noch lebe“, erzählt sie kühl. Ihre Familie hatte sie suchen lassen. Da Minderjährige nicht allein ohne Erziehungsberechtigte leben dürfen, wurde sie immer wieder von der Polizei aufgegriffen. Die brachte sie zurück nach Luxemburg in ein Heim für „schwer erziehbare“ Jugendliche. „Das war wie ein Knast“, erinnert sie sich – und haute immer wieder ab. „Die Polizei verlor irgendwann die Lust auf unser Spiel“, sagt sie.

Nach ihrem 18. Geburtstag ging es langsam bergauf. Als Volljährige durfte sie endlich Sozialleistungen beantragen und eine Wohnung mieten. Die fand sie in Köln – dank eines verständnisvollen Vermieters, der ihr vertraute und zu dem sie bis heute Kontakt hält. Dort holte sie erst ihren Haupt- und dann den Realschulabschluss nach. In dieser Zeit kämpfte sie gegen ihre Alkoholsucht – und gewann den Kampf schließlich. Das alles schaffte sie aus eigener Kraft. „Weil ich ein Ziel vor Augen hatte“, sagt sie. Schon lange wollte sie Erzieherin werden. Die Ausbildung machte sie schließlich in Hamburg. Hier arbeitet sie heute in einer Grundschule. „Es ist superschön, denn ich kann jetzt für Kinder die Bezugsperson sein, die damals mein Lehrer für mich war“, sagt sie.

Doch ihre Zeit auf der Straße ließ sie nicht einfach los. Es machte sie noch lange traurig, an Orten wie der Kersten-Miles-Brücke vorbeizugehen. Das habe viele schlimme Erinnerungen hochgeholt. Wie die an Männer, die ihr häufig Sex gegen Geld angeboten hätten. „Ich will das nie mehr erleben müssen“, sagt sie.

Wenn sie heute unter der Brücke am Alten Elbpark steht, 14 Jahre nach ihrer letzten Nacht auf der Straße, fühlt Xenia sich befreit. „Endlich kann ich hierher zurückgehen und darüber reden – sogar mit Stolz“, sagt sie erleichtert. „Ich bin mir treu geblieben. Es ist alles gut, so wie es jetzt ist.“ Sie grinst. „Heute kann ich sogar Witze machen über meine Traumata.“ Generell sei sie ein Mensch, der über die eigene Vergangenheit eher lache. „Ich finde, Comedy ist eine gute Art, sie zu verpacken und zu verarbeiten.“

Stolz könne sie sagen, dass sie schon viel erreicht habe. Doch das sei kein Grund, nicht weiter zu träumen. Einen eigenen Comedy-Klub in Hamburg, den wünscht sie sich. Ohne Eintritt, nur auf Spendenbasis, damit alle mitlachen können. Den Erlös wolle sie dann spenden – für Obdachlose. „Denn auch sie sind Menschen mit Träumen.“

Zurück in der Mathilde Bar in Ottensen. Ein letztes Mal läuft Xenia auf die Bühne. Sie bedankt sich für den Abend. „Kommt alle gut nach Hause. Bis dann!“ Der letzte Beifall gehört ihr. Und sie strahlt – als sei genau er dieser Reichtum, von dem sie früher mal geträumt hat.

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 381

Von der Straße auf die Bühne

Xenia Brandt war obdachlos – heute ist sie Comedian und verarbeitet so ihre Erfahrungen. Außerdem im Schwerpunkt über obdachlose Frauen: Wie Periodenarmut zu psychischen Problemen führt. Und: Hinz&Künztlerin Annie erzählt über Gewalt und Erniedrigung auf der Straße.

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Autor:in
Luca Wiggers
Luca Wiggers
1999 in Hannover geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist Anfang 2022 nach Hamburg gezogen. Seit Juni 2023 Volontärin bei Hinz&Kunzt.

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