Sozialarbeiterin über obdachlose Frauen

„Sie sind nicht hilflos“

Sozialarbeiterin Davina Kronshage. Foto: Dmitrij Leltschuk
Sozialarbeiterin Davina Kronshage. Foto: Dmitrij Leltschuk
Sozialarbeiterin Davina Kronshage. Foto: Dmitrij Leltschuk

In Eimsbüttel gibt es seit 32 Jahren den bislang einzigen Tagestreff für wohnungslose Frauen: die Kemenate. Autorin Simone Deckner hat mit Sozialarbeiterin Davina Kronshage über wichtige Rückzugsräume und die Ursachen für weibliche Wohnungslosigkeit gesprochen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Warum braucht es überhaupt eine eigene Anlaufstelle für wohnungslose Frauen?

Davina Kronshage: Viele Frauen, die zu uns kommen, haben in irgendeiner Form Gewalt von Männern erfahren. Da ist es einfach wichtig, einen Rückzugsraum zu haben – geschützt vor übergriffigen Blicken und Sprüchen. Wir haben ja nicht nur in der Gesellschaft ein Problem mit Sexismus, sondern auch unter Wohnungslosen.

Wie unterscheidet sich weibliche Wohnungslosigkeit von männlicher?

Wohnungs- und Obdachlosigkeit bei Frauen ist unauffälliger als bei Männern. Die Frauen kommen bei Bekannten, Familie und Freund:innen unter oder gehen Zwangspartnerschaften ein, um nicht auf der Straße zu landen. Doch natürlich gibt es auch Frauen, die auf der Straße leben. Viele versuchen dann alles zu geben, um nicht aufzufallen und nicht als obdachlose Person erkannt zu werden.

Welche Gründe führen dazu, dass Frauen plötzlich ohne Wohnung dastehen?

Gewalt spielt bei Frauen eine große Rolle: Sie verlieren ihr Zuhause, weil sie vor einem gewalttätigen Partner fliehen. Oft stehen sie nicht im Mietvertrag und müssen dann aus der gemeinsamen Wohnung raus. Oder die Wohnmöglichkeit ist an den Job gebunden, und wenn der weg ist, fällt auch die Unterkunft weg. Neben Trennungen und Jobverlust sind auch psychische Probleme zu nennen. Aber was mir ganz wichtig ist: Neben individuellen Gründen gibt es einen massiv ausgeprägten strukturellen Grund. Es ist einfach nicht ausreichend bezahlbarer Wohnraum in Hamburg vorhanden! Deshalb kann es in Debatten nicht nur darum gehen, dass einzelne Personen immer wieder zu hören kriegen: „Ja, du musst dich halt anstrengen!“

In welcher Verfassung kommen die Frauen zu Ihnen?

Das ist sehr unterschiedlich: Manchmal weiß eine Frau vor lauter Problemen gar nicht mehr, wo sie überhaupt anfangen soll. Dann sagen wir: „Komm erst mal an, trink einen Kaffee, und wir sortieren jetzt erst mal gemeinsam, was am wichtigsten ist.“ Da geht es um akute Krisenintervention. Aber die allermeisten Frauen haben schon eine Idee, was sie von diesem Ort erwarten, und kommen mit konkreten Fragen. Sie sind selbst die Expertinnen für ihre Lebenssituation, und wir unterstützen sie, stehen an ihrer Seite.

Psychologische Studien legen nahe, dass Frauen sich tendenziell eher Hilfe holen als Männer. Deckt sich das mit Ihrer Erfahrung?

Unsere Erfahrung ist auf jeden Fall, dass Frauen sich eher Hilfe holen, wenn das passende Angebot existiert. Frauen haben eine große Fähigkeit, ihre eigenen Ressourcen zu nutzen. Sie sind nicht hilflos. Das ist aber auch zweischneidig. Weil das ja auch heißt, dass sie schlimme Situationen sehr lange aushalten und oft erst, wenn gar nichts mehr geht, Unterstützung suchen und in eine Einrichtung wie unsere gehen. Zu uns kommen monatlich bis zu 190 verschiedene Frauen, das sind deutlich mehr als noch vor 20 Jahren. Und: Sie werden immer jünger. Wir beraten heute deutlich mehr Studentinnen, die aus ihrer WG rausmüssen und nicht mehr wissen, wohin.

Die Frage nach einer Schlafmöglichkeit steht ganz oben?

Viele Gespräche fangen so an: „Ich verliere bald meine Wohnung, wo kann ich jetzt hin?“ Wir unterstützen Frauen aber auch, wenn sie Fragen zu Sozialleistungen haben, bei Behördengängen und vielem mehr. Sie können sich auch einfach bei uns ausruhen. Manche Frauen kommen 14 Tage hintereinander und schauen sich alles erst mal an, bevor sie uns ansprechen. Das ist auch voll okay. Sie können ihre Wäsche waschen, duschen, essen und sich ihre Post hierher schicken lassen.

Die Kemenate gibt es seit 1992. Hat sich die Lage für wohnungslose Frauen in der Stadt seither verbessert?

Auf der Habenseite steht, dass eine Differenzierung im Hilfesystem stattgefunden hat. Durch die Istanbul-Konvention (EU-Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die Red.) gibt es heute ein größeres Bewusstsein für Menschen mit Gewalterfahrungen. Aber damals wie heute haben wir als großes Problem die Versorgung mit bezahlbarem Wohnraum. Wir merken das auch daran, dass immer mehr Frauen in der Wohnungslosigkeit landen, deren einziges Problem ist, dass bezahlbarer Wohnraum fehlt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 381

Von der Straße auf die Bühne

Xenia Brandt war obdachlos – heute ist sie Comedian und verarbeitet so ihre Erfahrungen. Außerdem im Schwerpunkt über obdachlose Frauen: Wie Periodenarmut zu psychischen Problemen führt. Und: Hinz&Künztlerin Annie erzählt über Gewalt und Erniedrigung auf der Straße.

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Autor:in
Simone Deckner
Simone Deckner
Simone Deckner ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Kultur, Gesellschaft und Soziales. Seit 2011 arbeitet sie bei Hinz&Kunzt: sowohl online als auch fürs Heft.

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