Kulturwissenschaftlerin über Heimat

„Ich habe eher Zuhausegefühle“

Solvejg Nitzke bezeichnet Heimat als „Komplexitätsreduktionswunderwaffe“. Foto: blende auf Dresden
Solvejg Nitzke bezeichnet Heimat als „Komplexitätsreduktionswunderwaffe“. Foto: blende auf Dresden
Solvejg Nitzke bezeichnet Heimat als „Komplexitätsreduktionswunderwaffe“. Foto: blende auf Dresden

Die Kulturwissenschaftlerin Solvejg Nitzke von der Ruhr-Uni Bochum hat zum Heimatbegriff geforscht und kritisiert, mit ihm würden Menschen ausgegrenzt. Sie plädiert dafür, von „Zuhause“ zu sprechen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Frau Nitzke, wann hatten Sie das letzte Mal Heimatgefühle?

Solvejg Nitzke: Als ich am Montag mit dem Zug ins Ruhrgebiet kam. Mir fällt das immer auf, weil ich Heimatgefühle eigentlich merkwürdig finde. Ich habe eher „Zuhausegefühle“. Es geht nicht so glatt von der Zunge wie „Heimatgefühle“, aber genau das mag ich daran.

Sie haben mal 50 wissenschaftliche Definitionen von Heimat gezählt. Für uns Laien: Was ist Heimat?

Heimat ist ein Konzept, mit dem Leute bestimmte Dinge bezeichnen. Es ist nichts Natürliches, was man hat oder was einfach da ist, zum Beispiel als Herkunftsort, sondern etwas, das kulturell geprägt ist. Wortgeschichtlich bezieht sich Heimat auf eine Vorstellung des Grunds, den man besitzt und bearbeitet. Menschen, die kein Land besitzen oder kein Recht haben, es zu bearbeiten, waren per Definition heimatlos. Je mobiler die Menschen wurden, desto größer wurde das, was man als Heimat bezeichnet hat. Je mehr sich die Orte und Lebenswelten verändert haben, desto mehr wurde Heimat in ein Früher, etwa die eigene Kindheit, verlagert.

„Heimat ist nichts Natürliches.“

Solvejg Nitzke

Sie haben Heimat auch schon als „Komplexitätsreduktionswunderwaffe“ bezeichnet. Bitte was?

Eine Komplexitätsreduktionswunderwaffe kann man wie einen Zauberstab einsetzen, der alles einfach macht, was eigentlich kompliziert ist. Sie und ich haben wahrscheinlich unterschiedliche Vorstellungen von Heimat, und doch können wir uns darüber unterhalten, als wüssten wir voneinander, was wir darunter verstehen – weil wir beide ein Gefühl dazu haben.

Die komplizierte Welt zum besseren Verständnis zu vereinfachen, ist doch praktisch …

Nicht nur praktisch, sondern sogar notwendig. Zum Problem wird es, wenn man sich nicht mehr bewusst ist, dass etwas eine Vereinfachung ist und die komplizierten Sachen aus der Welt raushält. Es ist nicht automatisch schlecht, von Heimat zu sprechen, aber man muss auch bereit sein zu fragen, für wen der Begriff gilt. Wenn Heimat verschleiert, dass ein Ort nur für diejenigen ist, die dort geboren und obendrein weiß sind, dann grenzt das viele Menschen aus.

Ich muss bei Heimat an die Heimatfilme mit Heinz Erhard oder Theo Lingen denken, die ich früher mit meiner Oma geschaut habe. Wir haben damals viel gelacht. Wie ist Ihr Forscherinnenblick darauf?

An den Heimatbildern in diesen Filmen kann man sehen, wie Ausschluss funktioniert. Die 1960er-Jahre waren geprägt von Migration und Integrationsbemühungen – so was kommt in einem Film mit Uschi Glas nicht vor. Es war die Zeit der Studentenbewegungen und der Infragestellung von Geschlechterrollen. In den Filmen wurden konservative bis reaktionäre Familienbilder gezeigt und eine heile Welt suggeriert – zu einem Zeitpunkt, an dem viele Menschen ihren Unmut gegenüber dieser Gesellschaft ausdrückten. Es gibt keine Welt, die so einfach ist, wie der Heimatfilm es nahelegt.

Bis heute haftet „Heimat“ etwas Reaktionäres an, sie ist auch ein rechter politischer Kampfbegriff geworden.

Dafür eignet sich der Begriff so gut, weil er mit der Vorstellung verknüpft ist, dass früher alles besser und einfacher war. Wenn die NPD sich in „Die Heimat“ umbenennt, um harmloser zu wirken, muss sie gar nicht sagen, dass nur weiße Mittelstandsleute mit bestimmten politischen Ansichten dort frei leben sollen.

Die Journalistin Dunja Hayali argumentiert in ihrem Buch „Haymatland“, das Wort werde von „selbsternannten Heimatschützern missbraucht“. Kann man den Begriff den Rechten wieder wegnehmen, indem man ihn weltoffen auflädt?

Nein, da bin ich nicht sehr optimistisch. Er ist inzwischen zu sehr mit seiner Funktion, Komplexität zu reduzieren und zu leugnen, verbunden.

Kommt es nicht auch darauf an, wie jemand den Begriff für sich definiert? Der Hamburger Autor Saša Stanišić spricht in seinem Buch „Herkunft“ von mehreren Heimaten.

Ja, vor allem die Diskussion darüber finde ich interessant. Die Frage „Was ist Heimat für dich?“ ist etwas völlig anderes als die politische Forderung „Wir müssen die Heimat schützen!“, denn die Forderung fragt eben nicht mehr, was das eigentlich für dich bedeutet. In dem Moment, in dem der Plural von Stanišić reinkommt und man damit spielt, wird es interessant. Ich bin mir nicht sicher, ob man das Wort Heimat dafür braucht. Ich habe auch ein Zuhause, zu dem der Nusskuchen meiner Oma und ein bestimmter Baum gehören. Das ist genauso schön und problematisch, wie die Heimatbilder anderer Leute auch. Aber das Wort Zuhause hat nicht die Gewaltgeschichte, die im Heimatbegriff steckt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Artikel aus der Ausgabe:

Ist das Heimat?

Was Heimat für unsere Verkäufer:innen bedeutet, wieso Heimatvereine als Gegengewicht zum Senat galten und was am Heimat-Begriff kritisch ist, erfahren Sie im Schwerpunkt. Außerdem: Spatzen von St. Pauli und ukrainische Kids auf dem Skateboard.

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Autor:in
Benjamin Buchholz
Benjamin Buchholz
Früher Laufer, heute Buchholz. Seit 2012 bei Hinz&Kunzt. Redakteur und CvD Digitales.

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