Millionen von Menschen verfolgen die Fußball-Europameisterschaft der Männer. Einer ihrer Hauptsponsoren: Sportwettenanbieter Betano. Auch aus dem Ligabetrieb sind Sportwetten kaum noch wegzudenken. Welche Auswirkungen hat das?
Im Wettbüro auf dem Steindamm scheint sich die Stimmung der drückenden Luft im Raum angepasst zu haben. Angespannt stehen Männer an Schaltern, sitzen über Wettscheine gebeugt an Tischen oder starren ernst auf Bildschirme, die an den Wänden hängen. Auf manchen laufen Fußballspiele. Auf anderen schalten Zahlen in Tabellen hektisch hin und her. Wer sich kennt, gibt sich kurz die Faust – und versinkt danach wieder in seine Wetten. Jubel oder Freude sind nicht zu erkennen. Das Wettbüro kann nur betreten, wer seinen Mitglieds- oder Personalausweis einscannt. So werden Menschen erkannt, die sich das Glücksspiel abgewöhnen wollen und sich daher selbst beim bundesweiten Sperrsystem „Oasis“ gemeldet haben. Oder die dort von Angehörigen vermerkt wurden. Sie müssen draußen bleiben.
Hinz&Künztler Basti*, der mittlerweile einen Job hat, geht nur noch selten in Wettbuden. Er mag die Stimmung nicht, sagt der 52-Jährige. Früher sei er Stammgast gewesen. Seine erste Wette habe er vor fast 20 Jahren am Steindamm abgeschlossen – und gewonnen. „Dann bin ich regelmäßig zocken gegangen. Immer auf der Suche nach dem nächsten Kick.“
Auch Dieter tippt, seit er denken kann. „Wetten liegt in meinen Genen“, sagt der 56-Jährige. Mit seinem Vater habe er die ersten Wettscheine ausgefüllt. An seine erste eigene Wette kann sich der Hinz&Kunzt-Verkäufer noch gut erinnern: „Gesetzt 100 Euro auf fünfmal Unentschieden in der Bundesliga. War eigentlich kaum möglich, ist trotzdem passiert, und ich hab einen richtig schönen Jackpot von über 5700 Euro gehabt“, sagt er stolz.
Als Basti und Dieter ihre ersten Wetten abschlossen, gab es nur Oddset, den staatlichen Wettanbieter – dazu einen großen illegalen Markt. Viele Anbieter hatten ihre Lizenzen im europäischen Ausland, bewegten sich in einer Grauzone. Erst seit Herbst 2020 sind private Sportwetten erlaubt. „Der Markt wurde viel zu schnell geöffnet“, sagt Jens Kalke, Mitarbeiter des Instituts für Interdisziplinäre Suchtforschung der Uni Hamburg und Mitherausgeber des Glücksspielatlas 2023. Man hätte erst wenige Wettanbieter zeitlich begrenzt zulassen und dann die Auswirkungen auf die Gesellschaft überprüfen müssen, ergänzt er.
Bei Oddset gab es bis zur Legalisierung privater Anbieter nur Festquotenwetten: Vor dem Spiel musste man ins Wettbüro, um eine Wette abzuschließen. Deutlich gefährlicher sind die heute viel beliebteren Livewetten, sagt Kalke. Bei ihnen können noch während eines Fußballspiels neue Tipps abgeben werden. Aus der Glücksspielsuchtforschung wisse man: Je schneller ein Spiel sei, umso gefährlicher werde es für Suchtgefährdete. „Man kann eher die Kontrolle verlieren – das ist wie beim Autofahren“, erklärt der 61-Jährige.
Im Jahr 2023 litten laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen 1,3 Millionen Menschen in Deutschland an einer Glücksspielstörung. Aus dem Glücksspielatlas geht hervor, dass vor allem junge Männer zwischen 18 und 35 Jahren süchtig nach Sportwetten sind. „Das hängt mit ihrer Sportaffinität zusammen“, erklärt Kalke. „Sportwettende denken oft, durch besonderes Wissen über Sport höhere Chancen zu haben und so Geld verdienen zu können. Ein Irrglaube.“
Auch Dieter, der früher selbst gekickt hat, meint, viel Ahnung von Fußball zu haben. „Deswegen gewinne ich ja so oft“, sagt er und grinst. Mittlerweile kenne er die Klubs der ganzen Welt. „Wenn ich morgens aufstehe, kann ich in Australien tippen“, sagt er. „Irgendwo läuft immer ein Spiel.“ Jeden Tag, jede Nacht habe er Wetten laufen. „Das Kribbeln ist so immer da.“
Dieter zockt auf seinem Handy. Mit einem Klick schwindet so das Geld auf seinem Konto. Seit der Glücksspielstaatsvertrag 2021 in Kraft trat, ist das in Deutschland legal. „Online-Livewetten hätte ich nicht erlaubt“, sagt Suchtforscher Kalke. So könne man rund um die Uhr wetten – und das unerkannt. Glücksspielsucht sei ohnehin eine „versteckte Sucht“, da sie nicht wie Drogen- oder Alkoholsucht mit körperlichem Verfall einhergehe. Auch Dieter hat lange versucht, seine Sucht zu verstecken. Heute steht er zu ihr, sagt er.
Seinen „Cash-Out-Tacho“ in der Tipico-App auf dem Handy habe er immer im Blick. In dieser Tabelle könne er jederzeit sehen, wie viel Geld er zum aktuellen Zeitpunkt gewinnt. Gewinne machen aber vor allem die Wettanbieter. Wie hoch die sind, verraten sie zwar nicht. Um die Größenordnung der Umsätze zu verdeutlichen, verweist Tipico aber auf die Gesamtwetteinsätze von mehr als sieben Milliarden Euro bei allen Sportwettanbietern in Deutschland im vergangenen Jahr. Mehr als eine Milliarde Euro verloren Nutzer:innen 2022 in Deutschland. Nicht nur Tipico und Co, sondern auch die deutschen Fußball-Ligen und Vereine profitieren. Gegenüber Hinz&Kunzt spricht Tipico von einem „positiven Einfluss” von Sportwetten. Wettanbieter würden Umsatz generieren, der über Sponsoring und Werbung wieder in den Sport zurückfließe.
Mehr als die Hälfte der Erst- und Zweitligisten haben einen Sponsor aus dem Wettbereich. Die Bewerbung von Sportwetten ließ sich der deutsche Glücksspielmarkt 2021 und 2022 396 Millionen Euro kosten. „Werbung und Sponsoring sind notwendig, damit Kunden legale von illegalen Angeboten unterscheiden können“, erklärt Tipico gegenüber Hinz&Kunzt. Mehr als zwei Drittel der Deutschen fordern laut Glücksspielatlas einen Sponsoring-Stopp für Sportwetten im Fußball. Ein künftiger Bundesligist geht voran: Der FC St. Pauli beendete im vergangenen Jahr die Partnerschaft mit Wettbetreiber bwin. Wettanbieter seien finanziell gute Partner, aber man wolle „andere Geschichten erzählen“, erklärte Präsident Oke Göttlich.
Deutschland brauche dringend eine kritische Debatte über die Rolle von Sportwetten im Fußball, sagt der Sucht- und Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Burkhard Blienert (SPD), gegenüber Hinz&Kunzt. „Am Ende sind es die Fans, die für dieses Milliardengeschäft die Zeche zahlen – erst mit ihren Spieleinsätzen, immer wieder – leider – auch mit ihrer Gesundheit“, sagt Blienert. Suchtforscher Kalke ist für ein grundsätzliches Verbot von Sportwetten-Werbung. Aus Studien wisse man, dass die Werbung vor allem Problemspielende anspricht, sagt er.
Dieter und Basti sehen sich als solche, die beiden wissen, dass sie süchtig sind. Einmal ist Basti zu einer Selbsthilfegruppe gegangen, doch das sei nichts für ihn, erzählt er. Mittlerweile habe er den Kampf aufgegeben. „Durch die Glücksspielsucht habe ich meine Seele verloren. In mir steckt der Teufel, der immer gewinnt.“
Basti ist im Heim aufgewachsen. Nachdem er dort wegrannte, lebte er sieben Jahre auf der Straße. Auch in dieser Zeit habe sich sein Leben ums Zocken gedreht. Das Geld, das er beim Betteln verdiente, verspielte er. „Hinterher hatte ich nicht mal Geld für Essen.“ Trotzdem könne er bis heute nicht aufhören.
Heute habe er einen Job, der ihm Stabilität gibt. Das Einzige, das Basti davon abhält, alles zu verzocken: Er hat kein Bankkonto. Er habe sich seinem Arbeitgeber anvertraut und der zahle ihm immer nur einen Teil des Lohns aus. „Das funktioniert gut für mich“, sagt Basti.
Trotz ihrer Verluste lieben Dieter und Basti den Fußball nach wie vor. Basti überlegt, zur Europameisterschaft mal wieder mit Kollegen in eine Wettbude zu gehen. Dieter will lieber konzentriert allein zu Hause am Handy tippen. „Die Anspannung ist jetzt schon groß“, sagt er.
*Name auf Wunsch des Gesprächspartners geändert