Blindenfußballerin Thoya Küster

Die Raumdeuterin

Bundesligaspielerin, deutsche Meisterin und Europameisterin im Blindenfußball: Thoya Küster Foto: Dmitrij Leltschuk
Bundesligaspielerin, deutsche Meisterin und Europameisterin im Blindenfußball: Thoya Küster Foto: Dmitrij Leltschuk
Bundesligaspielerin, deutsche Meisterin und Europameisterin im Blindenfußball: Thoya Küster Foto: Dmitrij Leltschuk

Europas derzeit wohl beste Blindenfußballerin spielt beim FC St. Pauli: Die gerade erst volljährig gewordene Thoya Küster paart intuitives Können mit ansteckender Spielfreude.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Tief in der eigenen Hälfte kommt sie plötzlich an den Ball mit der Rassel drin. Die verrät den nicht sehenden Feldspieler:innen, wo auf dem Platz sich die Kugel gerade befindet. Ein unwillkürliches Lächeln überzieht ihr Gesicht, als sie losdribbelt und Fahrt aufnimmt. Instinktiv weiß sie, was in den nächsten Sekunden zu tun ist, sozusagen mit blindem Verständnis. Jeder Schritt ein sauberer Kontakt mit dem Spielgerät, auf leisen Sohlen und mit erstaunlicher Leichtfüßigkeit vorbei an und herum um alle Gegner:innen, es gibt jetzt nur noch sie und den Ball – bis sie vom draußen stehenden Torguide der eigenen Mannschaft, der die Offensive anleitet, das Kommando zum Schuss erhält. Mit ihrem starken linken Fuß zieht Thoya Küster ab und lässt dem (sehenden) Keeper des FC Ingolstadt keine Chance. 1:0 – es ist an diesem 5. April das erste Tor des Spieljahres 2024 für die Blindenfußballer:innen des FC St. Pauli.

Wenn es nach Trainer Wolf Schmidt geht, ist die Szene stilbildend für das, was er in dieser Saison von jener Spielerin erwartet, die er nun schon ihr halbes Leben lang begleitet. Als neunjähriges, schüchternes kleines Mädchen kam sie 2015 zu ihm – und hat in den vergangenen Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung genommen. Seit einigen Jahren Bundesligaspielerin im Mixteam des FC St. Pauli. Zweimalige deutsche Meisterin. 2022 Europameisterin der Frauen, dabei Schützin aller acht deutschen Tore. „Hamburgs Sporttalent des Jahres 2022“. Vergangene Saison endlich das erste Bundesligator. Stand heute sei die angehende Abiturientin des Wilhelm-Gymnasiums Harvestehude (Leistungskurse Geo und Bio), volljährig seit dem 9. April dieses Jahres, laut Schmidt sogar „Europas wohl beste Blindenfußballerin“. Und der 58-Jährige fügt hinzu: „Thoya weiß manchmal gar nicht, wie gut sie schon ist und noch werden kann.“

„Ich kann auf dem Platz mit den Ohren sehen.“

Thoya Küster

Zum Kennenlerntermin am Altonaer Balkon, in der Nähe ihrer Wohnung, erscheint drei Wochen zuvor gemeinsam mit Mutter Antje eine neugierige, selbstbewusste junge Frau, die sich optisch in fast nichts von ihren Altersgenossinnen unterscheidet. Schwarzer Hoodie, Jeans, am Fuß die klassisch-schlichtschwarzen „Adidas Samba“ – wäre da nicht die orangefarben getönte Brille, die heraussticht. Thoya ist mit Achromatopsie zur Welt gekommen – einer Augenkrankheit, die neben einem stark eingeschränkten Sehvermögen auch alle Farbe aus dem Leben nimmt. Ihre Restsehfähigkeit liege bei etwa zehn Prozent, sagt Thoya. „Ich kann sehen, dass du neben mir sitzt, und ich ahne, dass da vorne auch noch Leute stehen, aber ich kann nichts wirklich erkennen, und alles ist grau.“ Ihre Sehbehinderung, sie weiß das früh, wird ein Leben lang bleiben, nicht besser, aber auch nicht schlechter werden, „da ist das Glas für mich aber halbvoll“, sagt Thoya und lächelt.

Thoya Küster im Spiel gegen den FC Ingolstadt. Foto: Dmitrij Leltschuk

Schon das kleine Mädchen Thoya bewegt sich gerne, viel und gut. Mutter Antje forscht nach fördernden Angeboten, stößt auf die Blindenfußballabteilung des FC St. Pauli. Thoya spielt vor, ohne jede Fußballerfahrung. Aber: „Man konnte von Anfang an spüren, welch intuitives Raumgefühl sie hat“, erinnert sich Wolf Schmidt. Das Mädchen darf bleiben und gerät in die bisweilen raue Welt eines bis dato komplett männlich geprägten Sports, da geht es im Blindenfußball nicht besser zu als anderswo. „Es war für fast alle dort der erste Kontakt mit einer blinden weiblichen Person“, sagt Antje Küster, die ihre Tochter zu allen Trainings und Spielen begleitet und irgendwann Mannschaftsbetreuerin wird. Gewöhnungsbedürftig ist „die Neue“ auf dem Platz für alle, nicht immer macht Thoya das Spaß, zeitweise spürt sie auch Überforderung, weil viel von ihr verlangt wird. Aber klein beigeben mag sie nicht. Denn sie spürt, dass ihr vieles hier guttut. Auf dem Platz muss sie, das stille Mädchen, sprechen und kommunizieren lernen, ohne viel Reden und Kommandos geht es nämlich nicht im Blindenfußball. „Da war ich selbst überrascht von mir, wie gut das ging“, sagt sie rückblickend und schärft auch ihre kommunikativen Skills bis zum heutigen Tag. Inzwischen könne sie „auf dem Platz mit den Ohren sehen“.

Unterhält man sich mit Mit- und Nationalspieler Rasmus Narjes über seine Spielpartnerin, fällt in fünf Minuten Gespräch 15-mal das Attribut „unfassbar“: Thoya sei „schon jetzt eine sehr komplette Spielerin mit einer unfassbar ansteckenden Lebensfreude“ und „einfach eine von uns“. Coach Schmidt attestiert ihr „unglaubliche Lernbereitschaft“ als größte Stärke, „sie ist immer bereit für Neues, das gibt es im Blindenfußball nicht so oft.“ Das gleichzeitige Spiel mit allen unsichtbaren Dimensionen des Platzes erfordere viel Mut – den Raumdeuterin Thoya instinktiv mitbringe: „Ich sehe sie im Zentrum des Spiels, weil sie alle Richtungen beherrscht, vorne, hinten, rechts und links“, eine seltene Gabe sei das, „sie hält unser Spiel zusammen.“ Ihre „Torgefahr unter hohem Gegnerdruck“ will er noch schärfen, denn die Gegenspieler:innen gehen keineswegs zimperlich mit ihr um.

Vergangenen August, bei der Blindenfußball-WM in Birmingham, gab es allerdings einen für Thoya unbezwingbaren Gegner – ihre eigenen Augen. Hierzulande sind die Blindenfußballer:innen in vier Seh-Klassen unterteilt, obwohl jegliches Restsehvermögen während der Spiele durch zusätzlich abgeklebte Augen sowie eine Vollgummi-Dunkelbrille ohnehin auf null gestellt ist. „M1“ bedeutet kein Sehvermögen mehr, Thoya ist „M3“, damit international gerade noch einsatzfähig. Doch auch beim Sehen gibt es in ganz kleinen Maßen so etwas wie eine Tagesform – was Thoya in Birmingham zum Verhängnis wurde. Nach siebenstündigen Tests attestierten ihr die Verantwortlichen laut Schmidt „eine nur an diesem einen Tag um ein Mikro-Mü zu starke Restsehfähigkeit“. Thoya war damit von der WM ausgeschlossen. „Diese Entscheidung war absurd, un- und widersinnig“, urteilt Schmidt. Der Trainer will für seine Vorzeige-Athletin um zukünftige internationale Einsätze kämpfen: „Am juristischen Procedere muss dringend gearbeitet werden.“ Auch für Thoya war der Turnier-K.O. ohne eine einzige Spielminute „eine brutale Enttäuschung“. Sie mag aber „deswegen niemandem böse sein, die Ärzte waren alle sehr nett, denen tat das selber leid.“ Lieber will sie, wie es ihrem warmherzigen Wesen entspricht, auch weiterhin das Gute sehen, denn: „Auf dem Platz fühle ich absolute Freiheit.“

Artikel aus der Ausgabe:

Das Spiel mit dem Geld

Unser Blick auf die EM: Was Sportwetten für Spielsüchtige bedeuten, ein Ausblick auf die Homeless Europameisterschaft und ein Portrait von Europas bester Blindenfußballerin, Thoya Küster vom FC St. Pauli.

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Autor:in
Jochen Harberg
Seit über 40 Jahren im Traumberuf schreibender Journalist, arbeitete festangestellt u. a. für Stern und Welt am Sonntag. Seit 2019 mit großer Freude im Team von Hinz&Kunzt.

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