Lebendige Nachbarschaft

Wolfgang Fuck ist angekommen

Hat lange gezögert, ins Rungehaus zu ziehen, heute ist er froh darüber: Wolfgang Fuck. Foto: Dmitrij Leltschuk
Hat lange gezögert, ins Rungehaus zu ziehen, heute ist er froh darüber: Wolfgang Fuck. Foto: Dmitrij Leltschuk
Hat lange gezögert, ins Rungehaus zu ziehen, heute ist er froh darüber: Wolfgang Fuck. Foto: Dmitrij Leltschuk

Im Barmbeker Rungehaus lässt es sich im Alter selbstbestimmt leben. Wolfgang Fuck gehört zu den ersten Mieter:innen. Warum er zuerst nicht einziehen wollte und sich nun doch zu Hause fühlt.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Wolfgang Fuck sagte Nein. Er hatte sein ganzes Leben im Elligersweg gewohnt und nicht vor, das zu ändern. Als seine Tochter ihm vorschlug, ins Rungehaus zu ziehen, sträubte er sich, musste allerdings zugeben, dass die Argumente auf ihrer Seite waren. Alle Wohnungen im Rungehaus sind barrierefrei. Aufzüge, breite Türen, ebener Boden. Er war 66 und fit. Doch auch er würde älter werden. Einen Pflegedienst könnte man sich irgendwann dazubuchen und so bis ins hohe Alter in den eigenen vier Wänden wohnen, erklärte sie. Seine Wohnung im Elligersweg lag im zweiten Stock – ohne Aufzug. Wie lange würde er da bleiben können? Überzeugen konnte seine Tochter ihn an diesem Tag nicht. Doch es war eine Frage geboren: Wie lebe ich bis zum Ende selbstbestimmt?

Das Rungehaus in Barmbek ist kein gewöhnliches Wohnhaus. Hier leben vor allem ältere Menschen. Manche Nachbar:innen denken deshalb, das Rungehaus sei ein Altenheim – was es nicht ist. Es ist Teil des Saga-Projekts LeNa, Lebendige Nachbarschaft. 73 barrierefreie Wohnungen, zwei Gemeinschaftsräume und eine große Terrasse, die, wie Wolfgang sagt, zum Klönen einlädt. Kein Geruch nach Desinfektionsmittel, keine Rezeption, an der sich Besucher:innen anmelden müssten. Die Mieter:innen leben ein alltägliches Leben in ihren Wohnungen. Nicht Pflegekräfte halten dieses Haus am Laufen – es ist die Nachbarschaft. Im Rungehaus kennen sich die Menschen. Sie kochen zusammen, veranstalten Flohmärkte, treffen sich beim Tai Chi und am Briefkasten. Und wenn einer einmal keine Lust darauf hat, macht er die Wohnungstür hinter sich zu und fertig. Im Rungehaus kann man auch gut alleine sein – nicht aber einsam.

Haben im Rungehaus Freundschaft geschlossen: Heike Klapper und Wolfgang Fuck. Foto: Dmitrij Leltschuk
Haben im Rungehaus Freundschaft geschlossen: Heike Klapper und Wolfgang Fuck. Foto: Dmitrij Leltschuk

Wolfgang Fuck hat 42 Jahre als Klempner gearbeitet. Die großen Hände, die breiten Schultern erzählen von Arbeitstagen auf dem Bau. Seine Stimme ist sanft, seine blauen Augen werden glasig, wenn er vom Tod seiner Frau spricht. 36 Jahre waren sie verheiratet. Dann wurde sie krank – Krebs. Nach drei Monaten war das gemeinsame Leben vorbei. Zwei Dinge blieben. Zum einen die Frage, ob er ihre Krankheit früher hätte bemerken können. Ob sie dann noch am Leben wäre? Zum anderen ihr gemeinsam aufgebautes Zuhause. Sein Herz hing an der Wohnung. Der Kopf allerdings wusste, dass seine Tochter Recht hatte.

In der Dreizimmerwohnung im Elligersweg hatte Wolfgang Fuck riesige Schrankwände. Allein im Schlafzimmer standen zwei Nachtschränke, ein Hochschrank, ein Eckschrank und ein Fünf-Meter-Koloss aus Kirschholz – alle proppenvoll. Im Rungehaus hat er ein Zimmer weniger. „Ich musste mich von vielem trennen. Das fiel mir schwer“, sagt Wolfgang. Sein komplettes Wohnzimmer, das geliebte Wasserbett und alle Schränke verkaufte er für 150 Euro. Der neue Besitzer rief die Tage darauf immer wieder an, weil er sie allein nicht mehr zusammengebaut bekam.

Gemeinsame Aktivitäten fördern den Zusammenhalt unter den Nachbar:innen. Foto: Dmitrij Leltschuk
Gemeinsame Aktivitäten fördern den Zusammenhalt unter den Nachbar:innen. Foto: Dmitrij Leltschuk

Ins Rungehaus zog Wolfgang Fuck ganz ohne Möbel. Er hatte zwar passende bestellt, doch anstatt zu klingeln, hinterließen die Lieferanten einen Zettel im Briefkasten, sie hätten niemanden angetroffen. Also verbrachte er die ersten Nächte auf einer Luftmatratze in einer leeren Wohnung, die sein Zuhause werden sollte. Noch war der Elligersweg sein Zuhause. Die Wohnung im zweiten Stock, in die mittags das Licht so schön fiel. Diese Wohnung war nur eine Minute zu Fuß entfernt, keine 100 Meter. Er konnte sein Leben wie zuvor weiterleben. In denselben Läden einkaufen, denselben Spaziergang gehen, dieselben Freunde treffen. Doch all diese Gewohnheiten täuschten ihn nicht darüber hinweg, dass sich etwas Grundlegendes verändert hatte.

Wolfgang Fuck gehört zu den ersten Mieter:innen im Rungehaus. Manche sind mit ihren Ehepartner:innen eingezogen, andere sind verwitwet, doch sie alle haben eines gemeinsam: Sie beginnen einen neuen Lebensabschnitt – womöglich ihren letzten. Und sie haben sich entschieden, ihn genau hier zu beginnen.

Nach und nach lernte Wolfgang Fuck im Haus neue Leute kennen. Darunter war Helga, in die er sich beim Skatspielen verliebte und die heute seine Partnerin ist. Darunter war Heike Klapper, mit der er eine gute Freundschaft pflegt. Jeden Morgen telefonieren sie und laden sich gegenseitig zum Frühstück ein. „Bis ich jemanden einen Freund nenne, ist viel Wasser die Elbe runtergeflossen“, sagt Wolfgang. Heike ist so eine Freundin. Sie kennen sich seit dem Einzug. Der ist mittlerweile zehn Jahre her. Heute ist Wolfgang Fuck 76, Heike Klapper 77.

Sie ist eine Frau mit weißem Bobschnitt und hat immer einen schlagfertigen Spruch auf der Zunge. Ins Rungehaus zog sie nach dem Tod ihres Mannes. 48 Jahre waren sie zusammen. Von einem auf den anderen Tag war er weg, ganz unerwartet, Aneurysma. Lange fragte sie sich, ob sie mit ihm über alles geredet hatte. Wenn sie von ihm erzählt, dann ist es, als würden ihr die Worte direkt aus dem Herzen sprudeln. Sie beschreibt einen Ehemann, der seinen Kindern Blumen ins Zimmer stellte und mit ihnen eine Extrarunde im Kreisverkehr drehte, um sie zum Lachen zu bringen. Der seiner Frau alle Freiheiten ließ und nie ein Problem damit hatte, dass sie mit Arbeitskolleginnen im Urlaub bis nach China reiste – ohne ihn. Einer, um den man für immer weinen möchte und es doch nicht kann, weil das Leben, unbarmherzig wie es ist, einfach weitergeht. Deshalb sind da keine Tränen in ihrem Gesicht, sondern ein sanftes Lächeln voll Dankbarkeit für die gemeinsamen Jahre.

Wie alle hier hat sie ihr altes Zuhause aufgegeben, um ein neues aufzubauen. Sie ist glücklich mit ihrer Entscheidung. „Die meisten meiner Freunde sind noch nicht zu Hause. Irgendwann werden sie aus ihren Wohnungen raus müssen“, sagt sie. „Aber ich kann hier bleiben, ich bin daheim.“ Wolfgang Fuck sieht es heute ebenso. Jeden Mittwoch lädt er seine Töchter und Enkel:innen zum Essen zu sich ein. Dann kochen sie Tomatensuppe und klönen den ganzen Nachmittag. Ob das Rungehaus sein Zuhause ist? Wolfgang Fuck sagt Ja.

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 386

gem/einsam

Wieso auch junge Menschen einsam sind, was das mit ihrer Gesundheit macht und was man dagegen tun kann, erfahren Sie im Schwerpunkt. Außerdem: Eine Fotoreportage aus Vietnam. Und: Wieso ein Bettler jetzt den HVV verklagt.

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Maja Schirrle

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