Wie die Stadt Zürich Jobs für Hilfeempfänger schafft
(aus Hinz&Kunzt 167/Januar 2007)
Viele Langzeitarbeitslose haben auf dem ersten Arbeitsmarkt so gut wie keine Chance mehr. Die Stadt Zürich hat daraus die Konsequenz gezogen: Sie bietet Hilfeempfängern neuerdings neben Qualifizierung und gemeinnütziger Arbeit auch sozialversicherungspflichtige Jobs an – unbefristet und mit regulärem Arbeitsvertrag. Von der Neuerung sollen nicht nur Arbeitslose profitieren, sondern auch die Stadtkasse. Langfristig sollen die Angestellten die Hälfte ihrer Kosten selbst erwirtschaften
Es gab einen Moment im Leben des Walter Haller, da geriet die Welt aus den Fugen. Lange Jahre hatte der heute 61-Jährige in einer Druckerei das Papier auf die Walzen gezogen. Dann ging sein Arbeitgeber pleite, und der gelernte Papiermacher verdiente sein Geld als Lagerarbeiter. Eine Zeit lang ging das gut. Doch vor zwei Jahren war Schluss: Haller verlor seinen Job und fand keinen neuen mehr. „Zu viel Freizeit“ hat er auf einmal gehabt, erinnert sich der kräftige Mann mit dem Schnauzbart: „Man kann nicht den ganzen Tag spazieren gehen oder an seiner Briefmarkensammlung sitzen.“
Lange hat er warten müssen auf eine neue Chance. Dann, vor acht Monaten, schickte ihn sein Berater vom Sozialamt ins neue Teillohn-Programm. Seitdem arbeitet Haller 20 Stunden die Woche in der Holzwerkstatt der Stadt Zürich und erledigt einen besonderen Job: Gemeinsam mit 35 anderen ehemals Langzeitarbeitslosen fertigt er Standardsärge, die allen Bewohnern der Stadt unentgeltlich zustehen. „Ich werde oft gefragt: Bekommst du keine schlechten Gedanken, wenn du den ganzen Tag an Särgen baust?“, erzählt Haller schmunzelnd. Das mache seinen Charakter nicht schlechter, antwortet er dann. „Mir macht diese Arbeit Spaß!“
Zweieinhalb Tage die Woche steht er in dem schmucklosen Flachbau im ehemaligen Züricher Industrie-Viertel Oerlikon, der die städtischen Sozialbetriebe beherbergt, streut Sägemehl in die von seinen Kollegen zusammengebauten Särge und kleidet sie mit einem Baumwollbezug aus. 750 Franken (475 Euro) monatlich bekommt er dafür als Lohn ausbezahlt. Dazu bekommt er fast die volle Sozialhilfe, sodass Haller 1600 Franken (1000 Euro) monatlich zum Leben hat – 640 Franken (400 Euro) mehr als ein Hilfeempfänger ohne Teillohn-Job. Miete, Krankenkasse und Rentenversicherung zahlt die Stadt obendrauf. Das hört sich nach mehr an, als es ist – Zürich ist eine der teuersten Städte Europas. Wichtiger aber als die Höhe des Lohns ist für Walter Haller etwas anderes: Er hat einen Arbeitsvertrag wie ein normaler Arbeitnehmer auch. „Für mich ist das beruhigend“, sagt er. „Das hier ist mein offizieller Arbeitsplatz.“
Möglichst viele unbefristete und sozialversicherungspflichtige Jobs schaffen für die stetig wachsende Zahl der Menschen, denen die moderne Arbeitswelt kein Angebot mehr macht: Das ist das Ziel des Züricher Teillohnprogramms. 400 Menschen melden sich Monat für Monat neu bei den Sozialämtern der 365.000-Einwohner-Stadt – viele deshalb, weil sie nach 14 Monaten Arbeitslosigkeit aus der Arbeitslosenhilfe herausfallen. Mindestens jeder dritte der 9000 Sozialhilfeempfänger, so die Verwaltung, könnte einer Arbeit nachgehen, wenn es sie gäbe. Für sie hat Zürich vergangenes Jahr das neue Programm gestartet. 350 Teilzeit-Jobs wurden bislang geschaffen, manche mit ungewöhnlichen Ideen. „Schöns Züri“ ist so eine. Im Rahmen des Anti-Graffiti-Projekts schließen Unternehmen einen Abo-Vertrag mit der Stadt ab. Die verpflichtet sich im Gegenzug, dass Teillöhner die Graffitis entfernen. Hauseigentümerverband und Malergewerbe sitzen mit im Boot: Die schwierigen Arbeiten übernehmen die Fachleute.
Ein paar hundert Meter von der Holzwerkstatt entfernt, in der Mensa der Schule Im Birch, erwartet Horst Reepen mit seinen Mitarbeitern die große Pause. In wenigen Minuten werden bis zu 120 hungrige Schüler die schlicht möblierte Kantine bevölkern. Bis dahin müssen die Teillöhner die Speisen fertig zubereitet haben und bereitstehen zur Essensausgabe. Bis vor einem Jahr arbeiteten die Mitarbeiter des 49-jährigen Betriebsleiters noch im Rahmen der Maßnahme „Stabilisierung im Alltag“. Das bedeutete für sie: kein Arbeitsvertrag, kein Lohn und keine Sicherheit. „Die Leute sind nun einfach motivierter“, beschreibt der 49-jährige gelernte Koch die Veränderung. Mit der Einführung der Teilzeit-Jobs habe sich der Umsatz der Kantine erhöht. Es gehe aber um mehr: „Die Teillöhner können sich viel besser bewerben. Die bekommen zum Beispiel ein richtiges Arbeitszeugnis.“ Etwa 15 Prozent der Teilzeit-Angestellten, so erste Auswertungen des Sozialdepartements, schaffen früher oder später den Sprung in einen regulären Job.
Nicht für jeden ist der erste Arbeitsmarkt überhaupt noch ein Thema. Harry Hirs zum Beispiel hat 20 Jahre lang als Montageschreiner auf dem Bau gearbeitet. Wegen seiner Erfahrung würden sie ihn dort heute noch gerne nehmen, meint der 43-Jährige. Doch könne er Stress einfach nicht mehr ertragen. „Die Nerven“, sagt er erklärend, „ich werde dann aggressiv.“ Er müsse jetzt vor allem auf seine Gesundheit achten. Für einen wie Harry Hirs ist das Teillohn-Programm maßgeschneidert. „Sonst würde ich zu Hause rumsitzen und wer weiß was tun.“
Kritiker des Programms bemängeln, die Stadt habe durch die Einführung der Teillohn-Jobs Standards abgesenkt. Tatsächlich arbeiten in den städtischen Betrieben jetzt zum Teil zwei Teillöhner dort, wo vorher ein Sozialhilfeempfänger qualifiziert wurde. Die Gewerkschaften stoßen sich vor allem an den niedrigen Löhnen. Andere monieren, manche der Jobs, etwa das Recycling von Elektroschrott, bedeuteten nicht mehr als ein Abstellgleis mit fragwürdigen Arbeitsbedingungen. Niemand werde gegen seinen Willen in den Teillohn gezwungen, kontert die Stadt. Gemeinsam mit dem Gewerbe hat sie kürzlich die Stiftung Zürich-Jobs gegründet. Sie soll den Aufbau so genannter Sozialfirmen mit Kapital unterstützen, die Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose bereitstellen. Erste Ansätze gibt es: So hat die Caritas in Zürich einen Laden für Geringverdiener eröffnet und immerhin zwölf Hilfeempfängern eine Anstellung in Teilzeit ermöglicht.
3000 Teillohn-Jobs sollen bis 2010 geschaffen werden, so die ehrgeizige Vorgabe der Stadt. „Ein schwieriges Feld“, sagt Martin Summerauer, Abteilungsleiter im Sozialdepartement. Zwar wache eine Kommission von Gewerbeverband, Gewerkschaft und Stadt darüber, dass keine reguläre Beschäftigung verdrängt werde. Doch Summerauer weiß: Wenn er sich mit seinen städtischen Betrieben etwa um das Recycling von Elektroschrott oder die Reinigung von Grünanlagen bewirbt, konkurriert er schnell mit Behinderten-Werkstätten oder Arbeitsprojekten für Strafentlassene. Vor allem mit neuen Dienstleistungsangeboten will er deshalb Nischen erschließen. „Wir könnten zum Beispiel mit unserer Wäscherei den Service anbieten, dass wir Hemden vom Arbeitsplatz abholen, reinigen, bügeln und wieder zurückbringen.“
Die Särge, die Walter Haller und seine Kollegen fertigen, wurden bis vor kurzem in Polen hergestellt. Zwar liegen die Züricher Teillöhner bei den Produktionskosten mit 150 Franken (95 Euro) pro Stück geringfügig über dem Preis der Konkurrenz. Doch dafür sind ihre Särge zweimal lackiert – und garantiert FCKW-frei.
Walter Haller hofft, dass sein Lohn bald steigt. In diesen Tagen werden die Angestellten in ein vierstufiges Tarifsystem eingruppiert, abhängig von Leistung und Ausbildung. Im besten Fall könnte er mit seinem Teilzeit-Job bald jene 1600 Franken (1000 Euro) verdienen, die er heute schon bekommt – doch müsste er nicht mehr zum Sozialamt gehen.