Wo Autos sind, da sind auch Menschen. Zumindest in der Helbingstraße. Warum ein Besuch im Wandsbeker Ortsteil Hinschenfelde spannend sein kann, erzählt unsere Dart-Reportage.
(aus Hinz&Kunzt 257/Juli 2014)
Ein Tunesier, der den Rassismus in Deutschland satt hat, ein Verein, der von der Pflicht zu helfen lebt und immer mehr Menschen in immer mehr Autos, die nach günstigem Inventar für ihre Wohnungen suchen. So sieht sie aus, die Realität in der Helbingstraße, die durch eine Absperrung unterbrochen und somit eine doppelte Sackgasse ist: Auf der einen Seite der Sperre Wohnhäuser, auf der anderen ein Industriegebiet. Doch der Reihe nach.
Dass wir hier landen, ist die Schuld eines Dartpfeils, den ich in der Redaktion willkürlich auf Hamburgs Stadtkarte geworfen habe. Ein Wurf, ein Treffer: Wandsbek, Helbingstraße. Gleich danach geht es los. Vom Hauptbahnhof brauchen wir – Fotograf Mauricio Bustamante und ich – eine knappe halbe Stunde zu einem Ort, den wir uns ohne den Pfeil nie ausgesucht hätten. „Warum auch?“, denken wir jetzt, wo wir angekommen sind. „Flora bleibt“ ist wie im Vorbeigehen an einen Stromkasten gesprüht. Kurz darauf sind die Reste der Bezirkswahlen zu sehen: AfD-Plakate – Alternative für Deutschland. Ein Park aus sanierten Saga-GWG-Häusern säumt die Straße zu beiden Seiten, am Rande ein kinderloser Spielplatz. Strahlend blauer Himmel, Vogelgezwitscher, Ruhe. 32.500 Menschen leben im Stadtteil. Wenn man auf den Hamburg-Internetseiten weiterliest, erfährt man, dass es hier viel ums Einkaufen geht. Shopping Center, Kaufhaus, Boutiquen. Hier jedoch – im ersten Drittel der Straße – wird nur gewohnt.
Wir treffen zunächst einen älteren Herren mit Hund, der in einem der Saga-GWG-Häuser lebt. Um die 50 Jahre sind die Häuser alt, mittlerweile frisch saniert. Ihr Alter sieht man ihnen gar nicht an, aussehen tun sie alle gleich. Der Rentner schimpft. Völlig überflüssig, meint er, sei die Sanierung gewesen, weil viel zu teuer. Seitdem stiegen die Mieten Jahr für Jahr. Nur die Rente nicht. Die bleibt, wie sie ist: klein. Schulterzucken und Kopfschütteln. Dann wird entschlossen weiter Gassi gegangen.
Parkplatzsituation Nummer eins: Wir sprechen einen weiteren Mann vor derselben Wohnanlage in Parkplatznähe an. Das mit den gestiegenen Mietpreisen hat auch er beobachtet. Und wo es vor dem Umbau viele einfache Abstellmöglichkeiten gab, stehen heute zur Hälfte Garagen. Die seien nicht ganz billig: „Eine Garage kostet 65 Euro Miete pro Monat“, sagt er. Wir fragen ihn, ob er in der Helbingstraße wohnt. „Nein“, die schnelle Antwort. Und dann erzählt er seine Geschichte: Hedi Ben Hadj ist 62 Jahre alt, kommt eigentlich aus Tunesien, lebt seit 1971 in Deutschland. Nach Wandsbek hatte ihn einst die Arbeit verschlagen. Treppen habe er hier Ende der 70er-Jahre gereinigt und deshalb einige der Bewohner kennengelernt, vor allem eine. „Sie hat mir immer ein Glas Wasser gegeben.“ Und er hat für sie arabische Texte übersetzt – Briefe einer Urlaubsbekanntschaft. Ben Hadj und die ältere Dame wurden Freunde, sogar sehr gute Freunde. Für seine fünf Kinder war sie wie eine Oma. Im vergangenen Jahr ist sie gestorben. Mit 94. Wie ist sie gewesen? „Sie war warmherzig, sehr warmherzig und sehr ehrlich.“
Der 62-Jährige kann seine Gefühle nur schwer unterdrücken. Solche Menschen habe er in Deutschland nicht allzu oft kennengelernt. Seine Trauer erinnert ihn daran, dass er sich in diesem Land nie wirklich zu Hause fühlte. Bis heute. „Es gibt immer noch viel Rassismus in Deutschland. Sie sagen es nicht, aber man spürt es. Ich bin seit mehr als 40 Jahren hier und immer noch Ausländer.“ Das verletzt ihn, macht ihn traurig und wütend. „Ich habe dieses Land mit aufgebaut“, sagt Ben Hadj und betont das „Ich“ mit seinem Zeigefinger, der auf seine Brust tippt. Vor mehr als 40 Jahren kam er nach Wolfsburg, um bei VW zu arbeiten. Dann kam er nach Hamburg und lebt seit jeher im Wandsbeker Stadtteil Bramfeld. Der Tunesier wurde damals von der Bundesrepublik eingeladen, aber nie willkommen geheißen. Mittlerweile – das ist noch nicht allzu lange her – habe er ein Schreiben bekommen, in dem man ihm die Einbürgerung angeboten hat. Aber jetzt möchte er nicht mehr. „Ich habe auch meinen Stolz“, sagt er. Auch wenn er sich gut integriert fühlt und viele deutsche Freunde hat. Seinen Kindern geht es ähnlich. Sie sind Deutsche, haben hier ihr Abitur gemacht, studiert. Und alle haben das gleiche Ziel: Deutschland verlassen, weil auch sie sich unerwünscht fühlen, sogar auch mehrfach angepöbelt wurden. Einfach so.
Nachdenklich und irgendwie beschämt ziehen wir weiter, kommen an Parkplatz Nummer zwei. Rund 20 Leute gucken zu, wie eine bewusstlose Frau aus dem Auto gezogen wird. Alles Übung zum Glück. Die Johanniter sind am Werk. Auf dem Plan steht Erste Hilfe, aktuell der Rautek-Rettungsgriff. „Der Entenpopo!“, sagt Kursleiterin Marion Granzow. „Mach den Popo raus!“ Ein Probe-Ersthelfer übt sich in gewünschter Körperhaltung, geht in die Hocke und möchte die scheinbar bewusstlose Dame vom Fahrersitz herunterhieven. Stopp! „Sag jeden Schritt, den du tust. Es ist erwiesen, dass Bewusstlose hören können.“ Abschleppen mit Ansage also.
Weil wir das spannend finden, bleiben wir beim Kurs, der sich offenbar nicht an Fahranfänger richtet. Ausbildungsleiter Christian Wagner erzählt, dass 90 Prozent der Teilnehmer Arbeitnehmer sind. Berufsgenossenschaftliche Vorschrift ist das. Fünf bis zehn Prozent der Mitarbeiter eines Unternehmens müssen je nach Betriebsform zum Ersthelfer ausgebildet werden. Pro Jahr kommen 25.000 Teilnehmer – diese Schulung ist eine der Einnahmequellen der Johanniter-Unfallhilfe.
Es folgt die „Disco-Regel“. „Anschauen, ansprechen, anfassen.“ Alles klar. Es geht um Atemkontrolle und die stabile Seitenlage. Da gehört der Kopf in den Nacken, Erbrochenes herausholen oder herauslaufen lassen. Um Disco geht es dabei dann allerdings gar nicht mehr, sondern um den möglichen Ernstfall. Was macht die Atmung? Die wird per Gefühl festgestellt. Der Atem des Verletzten soll spürbar sein. Im eigenen Gesicht. Pulskontrolle ist nämlich out, weil viel zu ungenau. „Ihr seid so voller Adrenalin, da hat sogar eine Tischkante einen Puls“, erklärt Marion Granzow. Sie macht Erste Hilfe übrigens auch bei Tieren. Denn eigentlich ist die gebürtige Düsseldorferin Tierpsychologin und -heilpraktikerin, Letzteres auch für Menschen. Helfen ist ihre Berufung: „Medizin und Psyche waren mir immer wichtig.“
Wir sagen „Danke“ fürs Zugucken und Erzählen. Von Marion Granzow bekommen wir noch den Tipp für den nächsten besonderen Parkplatz in der Helbingstraße. Sein Markenzeichen: Chaos. Sie schickt uns zu Stilbruch, einem Kaufhaus für Gebrauchtwaren, von Möbeln bis Gedöns. Hier wird verkauft, was andere entsorgt haben. Auf dem Weg dahin passieren wir die Absperrung, die die Helbingstraße nach dem ersten Drittel unterbricht und sie von beiden Seiten zur Sackgasse macht. Mitten im Industriegebiet, vorbei an Autohäusern und einer Firma für Lacke, Farben und Harze, die direkt an einen Kleingarten grenzt, finden wir die nächste Ruhestätte für Pkws.
Wobei: Von Ruhe kann hier nicht die Rede sein. Granzow hatte nicht zu viel versprochen. Nicht einmal eine Minute vergeht, da wird schon rangiert, gehupt, korrigiert. Hierher kommen alle, ob mit einem alten Wohnmobil, Golf 2, Mercedes-Cabrio oder mit SUVs aller Art. Vier Autos haben sich soeben einbahnmäßig aufgereiht. Es gibt kein Vor und kein Zurück. Ein Mann hockt hinter dem Lenkrad seines Kleinwagens wie ein Gorilla in einem viel zu kleinen Käfig. Eine Familienkutsche ist ihm im Weg und blockiert gleich zwei Parkplätze auf einmal. Er brüllt: „Frau am Steuer – Ungeheuer!“ und hat sich auch noch nicht beruhigt, als er einen Parkplatz findet. Das sei hier oft so, erzählt man uns. Oft gebe es Streit. Besonders seit zwei Jahren. Warum? Darüber kann man nur spekulieren. Die fünf bis sechs Lkw-Ladungen, die das Tochterunternehmen der Hamburger Stadtreinigung nach eigenen Angaben täglich erhält, scheinen zusehends begehrt. Mein Fazit: Gewusel mit Unterhaltungswert.
Mit einem Lächeln ziehen wir ab in Richtung Stephanstraße, die vor der Helbingstraße wie ein „T“-Balken liegt. Wir machen uns auf den Rückweg. Der Wandel, der Rassismus, die Rettung, das Chaos – wer hätte gedacht, dass Wandsbeker Parkplätze etwas zu erzählen haben? Man muss wohl einfach nur hinhören.
Text: Maike Plaggenborg
Fotos: Mauricio Bustamante