Eigentlich wollten Ella Huck und Dorothea Reinicke nur einen Theater-Workshop für jugendliche Flüchtlinge anbieten. 15 Jahre später ist ihr Kunstprojekt Hajusom deutschlandweit bekannt und mit Preisen dekoriert. Wir waren bei den Proben zur großen Geburtstagsgala dabei.
(aus Hinz&Kunzt 261/November 2014)
Kampnagel Probebühne, 14 Uhr
„Wir sind richtig wütend, wir fordern Menschlichkeit!“ Die Stimme der 15-jährigen Nebou N‘Diaye aus Burkina Faso hallt durch den Raum. Die Eröffnungsszene soll die Zuschauer packen. Nebou spricht von Kriegen; davon, wie Deutschland mit Flüchtlingen umgeht. Fast alle bei Hajusom können etwas dazu sagen. „Wir freuen uns auf euch: Kommt alle!“, improvisiert Nebou. Ella Huck tippt den Text in ihren Laptop. Ihre Regie-Partnerin Dorothea Reinicke denkt laut: „Das kannst du auch mal auf Farsi sagen! Oder auf Französisch: Entrez, s’il vous plaît!“ Nebou nickt. Farsi, Englisch, Türkisch – sie bewegen sich in vielen Sprachen.
Seit 2010 ist sie bei Hajusom. „Bei der ersten Produktion war ich noch total das Kind“, sagt sie und lacht.
Ella Huck: „Hajusom ist ein Kunstprojekt – mit Schwerpunkt auf Kunst. Und es ist ein politisches Projekt. Auch wenn nicht jeder explizit seine eigene Geschichte erzählt, persönliche Erfahrungen fließen immer ein. Wir fordern aber niemanden dazu auf. Man kann traumatisierte Menschen nicht einfach auffordern: ‚So, jetzt erzähl mal deine Geschichte hier auf der Bühne!‘“
14.50 Uhr
„Ich habe später ein Mikro in der Hand, oder?“, fragt Nebou. Ella Huck nickt, reicht ihr eins herüber. Ein schriller Rückkopplungston dringt durch den Raum. Die Boxen stehen falsch. Nebou übt mit Zettel in der Hand. „Wir sind die Experten. If we ruled the world …“ Sie soll später die Zuschauer zum Mitmachen auffordern. „Aber wie sage ich das am besten?“, fragt sie. Schnell findet sich eine Lösung: Nebou wird später die Zuschauer in Sicherheit wiegen: „Keine Angst, das wird hier kein peinliches Mitmach-Theater!“ Alle lachen.
Dorothea Reinicke: „Das Tolle ist die Kommunikation innerhalb der künstlerischen Arbeit. Jede und jeder kann sich einbringen mit seinem Wissen, seinen Talenten und dem, was er interessant findet. Wir sind auf die Teilnehmenden angewiesen, das funktioniert nur auf Augenhöhe.“
15.20 Uhr
An einem Holztisch stapeln sich saubere Teller vom letzten gemeinsamen Essen. Arman Marzak, langjähriges Hajusom-Mitglied, sorgt dafür: Mit 13 Jahren kam er aus Afghanistan nach Hamburg, betreibt heute einen Catering-Service. Er bringt frisches Fladenbrot und diverse Dips mit Oliven und Frischkäse: „Arabian style with a little bit African style“, sagt er. „Danke, Arman, du bist die Beste!“, sagt Iranerin Elmira Ghafoori (28) und wird sofort von den anderen korrigiert: „der Beste“. Elmira winkt ab: „Ach, wir beschäftigen uns doch gerade mit Gender-Fragen: Der oder die: egal, Hauptsache Mensch.“
Ella Huck: „Jeder weiß, was das bedeutet, wenn man mit Freunden oder der Familie Essen teilt. Das ist die Basis unserer Kunst. Es geht nicht nur um schreckliche Geschichten. Es geht wirklich darum, dass die Welt abgebildet wird, so divers sie auch ist.“
16.30 Uhr
„Ist das o.k., gleich so anzufangen, oder wollt ihr noch ein Warm-up?“, fragt Ella Huck. Die Performer stellen sich in einem Kreis auf, gehen in die Knie, strecken ihre Oberkörper. Dorothea Reinicke leitet die Sprechübungen an: „Boboboboboy, boheep.“ Es ist auf einmal sehr laut. Als Nächstes kommt die Tanzszene: „Leute, ihr müsst euch besser verteilen, hier links ist zu viel Platz!“ Zum Rhythmus stampfen alle mit dem Fuß auf, im nächsten Moment hüpfen sie wie die Hasen. Ein Mal noch! Noch gut sechs Wochen bis zur Premiere …
Dorothea Reinicke: „Es springt etwas rüber, weil die Performer sich stark fühlen. Sie merken, dass sie etwas zu geben haben. Entgegen diesem Image: Man kommt hierher und beutet Deutschland aus. Sie sind als Künstler auf der Bühne sichtbar, sorgen dafür, dass das Publikum eine andere Perspektive einnimmt. Es wird nicht 1:1 erzählt, was Betroffenheit auslöst. Wir sind ja nicht plötzlich Sozialarbeiterinnen geworden, wir sind Künstlerinnen.“
Text: Simone Deckner
Foto: Daniel Cramer