Kulturprojekt auf Industriebrachen: Am Reiherstiegkanal geht es einen Monat lang um Kunst und Veränderung
(aus Hinz&Kunzt 174/August 2007)
Rolf Kellner schaut auf den frisch gedruckten Flyer: Die Grafikerin hat ihn mit der Silhouette eines Autos gestaltet. Dabei wollte Kellner doch einen Reiher. Kellner ist einer der Initiatoren der Kunsttour. Und die schaut in diesem Jahr am Reiherstieg-Kanal nach Beute aus. Vor allem dort, wo der Kanal in der Nähe des Krankenhauses Groß Sand einen Bogen macht.
An einem Ort, der heute verlassen daliegt, wo es aber einmal 20 Werften gab und der Kaiser Fregatten bauen ließ. Hier werden sich etwa ein Etagenhaus für 72 Vögel und blattförmige Sonnenschirme erheben. Wobei nicht einfach die Kunst aus dem Atelier geholt und schnöde in der Gegend abgestellt wird: Alle Objekte beziehen sich auf den Ort, setzen sich mit seiner Geschichte und seiner Gegenwart auseinander. „Der Ort ist der Star“, sagt Kellner. Bis zu 10.000 Menschen haben in den vergangenen Jahren an den geführten Touren teilgenommen. Diese Erfolgsgeschichte dürfte sich fortsetzen. „Die Leute“, erzählt Rolf Kellner, „verlieben sich im Nu in diese Orte.“ Würden erst staunen über die verwunschenen Industriebrachen am Wasser und dann die Atmosphäre regelrecht aufsaugen. Doch wo die Liebe blüht, ist die Enttäuschung nicht weit. „Nicht nur, dass Kunstwerke sich auflösen und verfallen“, sagt Kellner. „Die meisten Orte, die wir besuchen, sind im Jahr darauf verschwunden“ – bebaut, zugeschüttet, abgerissen. Dann kommen die Briefe und E-Mails; die sehnsuchtsvollen Klagen, dass das Schöne, eben entdeckt, gleich wieder verloren wurde. Doch genau darum geht es: „Nur wer bemerkt, was sich verändert, findet Kraft, die Zukunft zu gestalten“, so Kellner. Der wird nicht träumend durch die Stadt stolpern, sondern aufwachen und erkennen, wie rasant sich gerade die Hafenregion verändert und welche Möglichkeiten das eröffnet. Trauerarbeit als Chance. Wobei sich Kellner und seine Mitstreiter generell gegen vordergründige Romantik stemmen: „Viele dieser Industrieareale, die so idyllisch wirken, sind in Wahrheit durch Schadstoffe extrem belastet.“ Schließlich war Umweltschutz früher ein Fremdwort; Schweröl und Chemikalien wurden beherzt wie gedankenlos weggekippt. Und er streckt den Rücken durch und sagt: „Die Stadt an sich lässt sich nicht einfrieren; sie wandelt sich ständig.“ Mitmachen, Teilhabe, Dialog und damit auch Streit sei gefragt. Von daher sei die Entscheidung der Grafikerin „Auto statt Reiher“ wohl doch richtig. Als Ergänzung zur Hafensafari versteht sich das Projekt Flusslicht: Per Barkasse geht es abends durch die Wilhelmsburger Kanäle. An Bord werden Soundcollagen erklingen, während Film- und Diaprojektionen die Nacht erhellen. Dass es übers Wasser geht, hat seinen Grund: Einst fuhren die Bauern von Neuhof mit Gemüse und Äpfeln im Boot durch Wilhelmsburg, überquerten die Elbe und erreichten über die Alster den Hopfenmarkt. Das wird sich nicht wieder herstellen lassen: Wo die Bauernhöfe waren, erhebt sich heute die Köhlbrandbrücke. Doch Rolf Kellner kommt ins Schwärmen: „Es wäre schön, wenn es wieder eine selbstverständliche Verbindung zwischen der Elbinsel und der Innenstadt gäbe. Dann könnte man mit dem Boot etwa vom Museum der Arbeit in Barmbek bis zu uns ins tiefste Wilhelmsburg fahren.“