Rupert Neudeck, Mitbegründer der Organisationen „Cap Anamur“, ist im Alter von 77 Jahren gestorben. Vor zwei Jahren traf ihn unser Autor Frank Keil. Damals ging es ihm gesundheitlich wieder besser und er sprach über seine Hilfsarbeit für Notleidende. In Erinnerung an ihn veröffentlichen wir den Text erneut.
(aus Hinz&Kunzt 259/September 2014)
Er konnte nicht zusehen, wie Flüchtlinge im chinesischen Meer ertranken. Da gründete Rupert Neudeck 1979 eine Hilfsorganisation. Und charterte in Hamburg ein Schiff: die „Cap Anamur“. 35 Jahr ist das her. Eine Begegnung.
Rupert Neudeck ist in der Stadt und er kann sich vor Interviewanfragen kaum retten. Schnell noch gibt er ein Interview für ein Fernsehteam der Exilgemeinde der Vietnamesen in den USA; gertenschlanke Männer und Frauen, die sich nach jeder Antwort tief verbeugen. Die nach dem Interview alle ihr Smartphone zücken und sich mit ihm fotografieren lassen. „Wissen Sie, dass ich öfter fotografiert wurde als jeder Politiker? Die sind ganz schön neidisch auf mich“, sagt Neudeck jungenhaft und bestens gelaunt. In diesem Jahr ist er 75 Jahre alt geworden.
Und er ist noch mal zurückgekommen nach Hamburg, wo das begann, was er sein zweites Leben nennt: Als Gründer und Kopf der Hilfsorganisation „Cap Anamur“ hilft er ab Herbst 1979, über 11.000 Vietnamesen zu retten, die aus ihrem Land in meist ungeeigneten Booten über das Meer fliehen.
Sein erstes Leben beginnt 1939, als er in Danzig geboren wird. Er ist sechs Jahre alt, als er mit seinen Geschwistern und seiner Mutter fliehen muss. In der Stadt Hagen, in Nordrhein- Westfalen, kommt die Familie unter. Er macht das Abitur, studiert Philosophie und Germanistik, die Studentenbewegung prägt ihn: „Man konnte damals als Student nicht nicht rebellisch sein.“ Erzählt belustigt, dass damals jeden Abend erbittert über Gott und die Welt diskutiert wurde und diejenigen Recht bekamen, die am längsten durchhielten, weil sie am wenigsten Schlaf brauchten. Aber er kann diesen durchdiskutierten Nächten absolut Gutes abgewinnen: „Wenn die Menschen heute sagen: ‚Aber das geht doch nicht‘, dann haben wir damals gelernt, uns zu fragen: ‚Wie geht es aber doch?‘.“ Und das ist bis heute seine Devise: Egal wie groß die Aufgabe ist, die vor dir liegt – fang einfach an. Schau was möglich ist!
Er wird nach dem Studium Journalist, arbeitet erst für die Katholische Funk-Korrespondenz, dann für den Deutschlandfunk. So könnte er sein Leben bequem einrichten, aber dann wird er die Fernsehbilder nicht los – von Menschen, die hilflos auf offener See treiben. Da muss man doch helfen! Er findet Gleichgesinnte wie den Schriftsteller Heinrich Böll oder den Fernsehmann Franz Alt, der in seiner Sendung „Report“ zu Spenden aufruft: Zwei Tage später sind 1,3 Millionen D-Mark eingetroffen. Von dem Geld chartert Neudeck im Herbst 1979 in Hamburg einen Stückgutfrachter, der von Japan aus Kurs auf das Chinesische Meer nimmt. Die Besonderheit des Schiffes: Es hat Kräne, sodass man große Rettungsboote zu Wasser lassen kann.
„Ich hatte keine Ahnung von Schiffen, ich hatte keine Ahnung von Navigation, ich hatte keine Ahnung vom Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen. Ich hatte von nichts eine Ahnung!“ Im Nachhinein ist er darüber froh: „Wenn man vorher alles weiß, dann lässt man es oft besser sein. Die klügsten Leute auf dieser Welt sind die klügsten, wenn es darum geht, Aktivitäten zu vermeiden.“
Sind die Flüchtlinge an Bord, geht es nach Indonesien, Malaysia oder in die damalige Kronkolonie Hongkong. Doch deren Häfen dürfen erst angelaufen werden, wenn Deutschland garantiert, die Flüchtlinge aufzunehmen. Jedes Mal braucht er dafür die Unterschrift des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher. Jedes Mal steht die Rettungsaktion auf der Kippe.
Denn auch wenn viele Bundesbürger damals für die Flüchtlinge spenden – in der Politik ist man nicht überall begeistert von der Idee, nun vietnamesische Flüchtlinge aufzunehmen. Doch Neudeck versteht es, sich durchzusetzen, denn zum Glück verlaufen die Linien zwischen Zustimmung und Ablehnung quer durch die Parteien: „Wir hatten zwei Landesregierungen, die uns unterstützten, und zwei, die der Gegner waren. Wir hatten in Niedersachsen Ernst Albrecht von der CDU, der war ein großer Fan, und aus NRW kam Johannes Rau dazu. Gegner waren Franz Josef Strauß aus Bayern und Holger Börner von der SPD in Hessen. Das konnte man immer gut gegeneinander ausspielen. Wir haben am Ende gut 11.300 Menschen retten können.“
Apropos „ausspielen“ – geht es um die Flüchtlinge, kennt er keinen Kompromiss, kein Taktieren: Wer in Not ist, dem muss geholfen werden. Egal, aus welchem Land er kommt, ganz gleich, was seine Gründe für seine Flucht sein mögen. Und völlig unabhängig davon, ob jemand nun hoch qualifiziert ist und nützlich für das Aufnahmeland oder als Analphabet zu uns kommt. Er ist ein Vertreter eines radikalen Humanismus.
1982 – ein Rückschlag. Die Bundesregierung regelt die Aufnahme von Flüchtlingen neu: Nur wer direkt und ohne Umweg über ein Transitland deutschen Boden betritt, kann dort um Asyl ersuchen. Und was macht Neudeck? Er fährt mit der Cap Anamur nonstop bis nach Hamburg, stoppt an den Landungsbrücken und geht hier mit den geretteten Vietnamesen von Bord: „Die Hamburger haben uns damals einen rauschenden Empfang bereitet. Es gab Applaus ohne Ende – und damit hatte die Bundesregierung nicht gerechnet.“
Wieder fließen Spenden und seine Hilfsorganisation kann weiterarbeiten. Dann verebbt langsam der Flüchtlingsstrom. Zugleich erklärt sich die vietnamesische Regierung bereit, seine Hilfsorganisation in ihr vom Krieg gebeuteltes Land zu lassen, wo sie Krankenhäuser und Ambulanzen aufbaut. Mag ein Regime auch undemokratisch sein – den Menschen zuliebe muss man mit ihm zusammenarbeiten. Hilft ja nichts.
Entsprechend zieht er sich zurück, als sich seine Organisation mehr und mehr politisch positioniert und damit das Feld der neutralen Hilfe verlässt. Und er gründet die nächste Hilfsorganisation: die Grünhelme, in Anlehnung an die Blauhelmsoldaten der UNO, natürlich ohne Waffen. Aktuell sind sie auf den Philippinen und in Kenia vor Ort, auch in Syrien waren sie zuletzt tätig – bis drei Mitarbeiter verschleppt wurden und über ein Jahr verschwunden blieben. Die Erleichterung, dass sie wieder freikamen, ist ihm noch immer anzumerken. Auf die Frage, woher er die Kraft nimmt, sich nun seit so vielen Jahren um Menschen in oft ausweglosen Situationen zu kümmern, sagt er: „Ehrlich gesagt ist das die einzige Frage, die ich nicht gut beantworten kann.“
Und er legt die Hände ineinander, sagt, dass es schlicht nichts Wunderbareres gibt, als zu helfen und den Menschen wiederzubegegnen, denen man einst geholfen hat – wie jetzt gleich, wenn er ganz privat einige der Vietnamesen von damals wiedertreffen wird.
Auch sonst geht es ihm bestens, dabei ging es im letzten Jahr gesundheitlich alles andere als gut: Heftige Herzrhythmusstörungen bedrängten ihn. „Ich hatte das große Glück, dass ich in Köln einen vietnamesischen Arzt fand, der eine neue Methode gegen diese Krankheit entwickelt hatte – und so hat er mich kuriert.“ Und Rupert Neudeck nickt, strahlt dann übers Gesicht: „So schließt sich der Kreis: Wir haben damals Leben gerettet, nun wurde ich gerettet. Für mich ist das eine ganz herrliche Geschichte.“
Text: Frank Keil
Foto: Dmitrij Leltschuk