Nach dem Feuer unter der Kennedybrücke haben dort neue Bewohner ihre Zelte aufgeschlagen. Menschen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Sogar zwei Kinder haben dort schlafen müssen.
Der Ruß ist von den Wänden gewischt, die verbrannten Zelte sind endlich weggeräumt: Nachdem die Obdachlosen-Platte unter der Kennedybrücke im Juni abgebrannt und die ehemaligen Bewohner umgezogen waren, ist wieder Leben auf der Platte eingekehrt. 16 Zelte stehen dort in einer Reihe, ihre Bewohner suchen Schutz vor dem nahenden Herbst. Der kühle Septemberwind fegt trotzdem unter der Brücke hindurch und kündigt an, dass es hier im Winter richtig ungemütlich werden wird. Noch will sich aber niemand beklagen: „Stell dich nicht so an, wir sind die ganze Zeit hier!“, sagt eine Stimme aus einem der Zelte zu einem Spaziergänger, der sich über den kühlen Durchzug beklagt.
Die unterschiedlichsten Menschen hat die Obdachlosigkeit unter die Brücke getrieben. Sie alle haben kein festes Dach über dem Kopf und wenig Geld in der Tasche, aber viel mehr Gemeinsamkeiten gibt es nicht. Da ist der 32-jährige Sascha, der sich mit dem Leben auf der Straße seit mehr als zehn Jahren – mit Unterbrechungen – eigentlich ganz gut arrangiert hat. Im selben Zelt schläft die 19-jährige Kim, die noch nicht so recht weiß, was sie vom Leben will. Nebenan wohnt der gleichaltrige Nils, der gerne zur Bundeswehr gehen würde, aber schon zwei Mal abgelehnt wurde. Und dann sind da noch die, die aus anderen Ländern nach Hamburg kamen, weil sie in der alten Heimat keine Perspektive mehr für sich sahen.
So wie die sechsköpfige Familie Nikolov aus Bulgarien, die in einem großen Igluzelt unter der Brücke lebt und unendlich dankbar dafür ist, dass wenigstens ihre kleinen Kinder und deren Mutter inzwischen ein festes Dach über dem Kopf haben. Die anderen Zelte, die sich an der Brückenwand drängeln, sie verbergen noch viele andere Schicksale. Das von Familie Nikolov hat im August viele Hamburger bewegt: Großeltern, Eltern und Kinder zelteten an der Alster. Plötzlich waren da Knirpse, die auf der Straße schliefen. Der 6-jährige Ivan und die 4-jährige Katerina blickten die Bevölkerung mit großen Augen von der Titelseite einer Boulevardzeitung an. Obdachlose Kinder in der reichen Hansestadt – kann das wirklich wahr sein? Es kann.
„Ich erlebe immer wieder, dass Familien in Parks leben.“
Hamburg ist für die Familie das vorläufige Ende ihrer Suche nach Arbeit und Zukunft. In Bulgarien lebte die Familie ohne Einkommen, Strom und fließend Wasser. „Es gibt dort überhaupt keine Möglichkeit zu arbeiten“, sagt Georgi Nikolov. Gerade als Roma würde ihnen dort niemand einen Job geben. Der 48-Jährige musste Schulden bei einem Privatmann machen, die er nicht zurückzahlen konnte. Geldeintreiber hätten daraufhin die Familie bedroht. Großmutter Katerina und Großvater Georgi machten sich auf den Weg nach Westeuropa, vier Jahre lang zogen sie immer weiter. In Spanien, Portugal und Frankreich haben sie als Saisonarbeiter und Schrotthändler gearbeitet, in England haben sie es erfolglos versucht. Arbeit gab es am Ende nirgends mehr, also kamen sie nach Hamburg und holten auch ihre 24-jährige Tochter Ilinka mit ihrem Mann und den Kindern nach. Nicht, weil sie Sozialleistungen erwartet hätten, sondern weil sie arbeiten wollen, betonen sie. Die Familie hat eine beschwerliche Zeit hinter sich, aber obdachlos wurde sie hier zum ersten Mal.
So traurig diese Geschichte ist, sie ist bei Weitem kein Einzelfall. Obdachlose Familien aus Osteuropa gibt es in Hamburg viele, die meisten bleiben jedoch unsichtbar. Insgesamt schätzt Andreas Stasiewicz die Zahl der obdachlosen Osteuropäer in Hamburg auf 600, die meisten von ihnen seien Roma. Er berät im Auftrag der Sozialbehörde Zuwanderer aus Osteuropa. Wie viele davon Familien sind, weiß er nicht, aber: „Wir stellen derzeit eine Zunahme von Roma-Familien aus Rumänien fest“, sagt er. Und: „Ich erlebe immer wieder, dass Familien in Parks leben.“ Letztlich, sagt Stasiewicz, sei dafür die Europäische Union verantwortlich, die die Diskriminierung und Verfolgung von Roma in den osteuropäischen Ländern zu lange ignoriert habe. Je stärker die zunähmen, desto mehr Menschen würden auf der Suche nach einem besseren Leben nach Deutschland kommen. „Das ist völlig legitim“, sagt Stasiewicz.
Die Stadt Hamburg kann diese Probleme nicht alleine lösen, sagt Stasiewicz. Er fordert Initiativen auf Bundes- und Europaebene. Trotzdem geht auch die Sozialbehörde nicht befriedigend damit um: Statt Unterkünften bietet sie den Obdachlosen Bustickets in ihre Heimatländer an. Hinter den Kulissen streiten die Juristen, ob Zuwanderer aus den Ländern der EU-Osterweiterung hier Ansprüche auf Hilfe haben. Die Diakonie glaubt anders als die Behörde, dass die Stadt helfen muss. Sogar dann, wenn die Gerichte entgegen seiner Erwartung anders entscheiden sollten, sagt Peter Ogon, Experte für Existenzsicherung bei der Diakonie in Hamburg: „Die Stadt hat eine moralische Verantwortung, gerade wenn es um Kinder geht!“
Weil die Nikolovs es nicht ertrugen, dass ihre Kinder unter einer Brücke schlafen mussten, gingen sie zur Sozialbehörde. Man schickte die Familie zur Beratungsstelle für osteuropäische Obdachlose, doch hätten sie dort nur Ablehnung erfahren, erzählt Großmutter Katerina: „Sie haben gesagt, dass sie das Jugendamt einschalten und uns die Kinder wegnehmen.“ Beratungsstellenleiter Stasiewicz sagt, die Familie sei darüber informiert worden, dass so etwas schon vorgekommen sei: „Man kann das als Drohung verstehen.“ Nach einer bezahlten Nacht im Hotel sollte sich die Familie entscheiden, ob sie auf Kosten der Behörde zurück nach Bulgarien reisen wolle. Für sie klang das wie ein Ultimatum: Rückreise oder Kinder weg. „Das war, als ob sie uns wegschmeißen wollten“, erzählt Katerina.
„Wir müssen das aushalten, wie die anderen auch.“
Niemand sollte auf der Straße schlafen müssen, erst recht keine Kinder. Deswegen unterstützte Hinz&Kunzt Mutter Ilinka bei der Suche nach einer Unterkunft für sich und ihre Kinder. Inzwischen sind sie in einer Kirchenkate in Volksdorf untergekommen – eine Notlösung. Für die Nikolovs trotzdem eine große Erleichterung: „Es geht uns jetzt sehr viel besser, seit die Kinder ein Dach über dem Kopf haben“, sagt Großvater Georgi. Es ist nicht unbedingt wahrscheinlich, dass die Familie bis zum Winter eine Wohnung oder auch nur ein Zimmer gefunden hat. Wollen die Nikolovs sogar lieber in Hamburg im Zelt leben als zurück nach Bulgarien zu gehen? Alle nicken entschlossen. Wenigstens gibt es hier medizinische Nothilfe, Großvater Georgi hat sich gerade zwei Zähne ziehen lassen. Das hätte er sich in Bulgarien nicht leisten können. „Dort müssten wir mit unseren Schmerzen leben“, sagt er. Wie die anderen ist er dankbar für jede Hilfe und will sich nicht beschweren: „Sehr viele Menschen leben in Hamburg unter Brücken“, sagt er. „Wir müssen das aushalten, wie die anderen auch.“
Ob er „zu Hause“ ist, hat Tochter Ilinka ihren Vater kürzlich am Handy gefragt und war selbst von ihren Worten überrascht. Denn damit meinte sie das Zelt unter der Kennedybrücke, das eigentlich zu wenig Komfort für ein richtiges Zuhause bietet. Trotzdem kommen sie gut zurecht. „Wir leben hier wie Brüder“, sagt Georgi. Die Nachbarn würden ihnen Essen mitbringen oder ihnen die Einrichtungen zeigen, in denen sie kostenlos welches bekommen können. „Wir essen leider nicht gemeinsam, weil wir die Sprache nicht sprechen“, bedauert der Großvater. „Aber wir haben mit niemandem Streit.“
Drei Zelte weiter kocht Sascha auf einem Campingkocher Kaffee für sich und seine Freunde. Jedem, der vorbeigeht, bietet er eine Tasse an, aber alle lehnen ab. Nils säubert mit einem Handfeger gründlich den Boden vor seinem Zelt. „Wenn ich im Winter noch hier zelte, dann streue ich auch“, sagt er. „Die alten Leute sollen ja nicht auf den Stufen ausrutschen!“
Ivan und Katerina, die Kinder der Nikolovs, schleichen sich von hinten an und springen auf seine Schultern. Die drei kabbeln, als wären sie beste Freunde. Was sie sagen, versteht Nils nicht. Aber ihr Lachen, das versteht er. Dass einige der Roma-Familien aus Bulgarien und Rumänien ihre Kinder zum Betteln schicken, stößt auf großes Unverständnis bei den anderen Brückenbewohnern. Die Nikolovs, betonen sie, seien anders, sie würden sehr herzlich mit den Kindern umgehen. „Die Kinder bringen hier richtig Leben unter die Brücke“, sagt Kim und strahlt. „Wenn sie hier sind, habe ich das Gefühl, angekommen zu sein.“
„Ich hätte gerne eine Wohnung oder ein WG-Zimmer“
Vor einem Jahr ist Kim in Bremen aufgebrochen, hat im Streit die Wohnung ihres Vaters verlassen. „Ich hasse es, mich mit ihm zu streiten, also bin ich nicht mehr nach Hause gegangen“, sagt die 19-Jährige. Dann hat sie Sascha getroffen, den sie jetzt „Schatzi“ nennt, und ist mit ihm durchgebrannt: nach Oldenburg, Berlin, Hamburg. Bei Sascha hat es noch früher angefangen, schon mit sechs Jahren ist er zum ersten Mal von zu Hause abgehauen, sagt er. Der traurige Grund: „Ich hasse meinen Vater, weil er mich und meine Mutter geschlagen hat.“ Später kam Sascha dann ins Heim. „Ich habe mich irgendwann für die Straße und gegen das Heim entschieden“, erzählt der 32-Jährige. Mehr als zehn Jahre sei das jetzt her, seitdem habe er nur selten eine Wohnung gehabt und es darin nie lange ausgehalten: „Ich komme mit dem normalen Leben gar nicht klar, in einer Wohnung fühle ich mich eingeengt. Dabei hab ich’s immer wieder versucht.“
Jetzt also die Kennedybrücke. Seit Mitte August leben er und Kim an der Alster. Beide sind damit halbwegs zufrieden: „Das Leben auf der Straße gefällt mir eigentlich“, sagt Kim. Auch der vergangene Winter, ihr erster auf der Straße, hat sie nicht abgeschreckt. Mit der richtigen Kleidung und Ausrüstung ließe es sich gut in der Kälte aushalten. Nils sieht das ganz anders. „Das hier draußen ist nichts für mich. Ich hätte gerne eine Wohnung oder ein WG-Zimmer“, sagt er. Kurz nach dem Gespräch findet er tatsächlich eine Wohnung, zunächst für die kommenden drei Monate. Wenn es schlecht läuft, muss er im Winter erneut unter die Brücke. Dort will er nicht wieder hin, denn es ist nicht nur harmonisch, mit einigen der Nachbarn gibt es auch Streit: Weil sie ihren Müll draußen liegen lassen oder weil sie nachts, wenn sie betrunken sind, Radau machen. Manchmal prallen die vielen Schicksale unter der Brücke aufeinander.
Außerdem ist das Leben ohne festes Dach über dem Kopf gefährlich. Das hat das Feuer im Frühling gezeigt, bei dem nur durch Glück niemand verletzt wurde. „Da darfst du gar nicht drüber nachdenken“, sagt Sascha. „Sonst kommst du gar nicht mehr zum Schlafen.“ Neben seinem Schlafsack steht seit Kurzem ein Feuerlöscher.
Text: Benjamin Laufer
Foto: Mauricio Bustamante