Reisen für Schwerbehinderte

„Kein Charity-Mitleidsding“

Stadtrundgänger Sebastian Saavedra macht die Führung für Svenja Goluch kostenlos. Foto: Therese Walther/www.sucherin.de

Eine Hamburger Initiative unterstützt diejenigen, für die Reisen oft unmöglich sind: schwerbehinderte Menschen mit wenig Geld.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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„Vorsicht, ich muss durch!“ Auf der Reeperbahn versucht Svenja Goluch an einer Gruppe unaufmerksamer Menschen vorbeizukommen. Endlich hat sie sich Platz verschafft und kann tun, was sie am liebsten tut: Sie drückt den Joystick nach vorn und gibt Gas. In ihrem elektrischen Rollstuhl fährt die 39-Jährige neben ihrem Stadtführer über den Kiez. Geschickt manövriert sie sich um umgestürzte E-Roller herum.

Immer in ihrer Nähe: Heiko Reh. Der Gründer der Rollstuhl-Erlebnisreisen hat Svenja ihren großen Wunsch erfüllt: vier Tage Hamburg. Der 44-Jährige läuft meistens vor Svenja, damit sie weiß, wo sie langfahren kann. Immer wieder muss er ihr über Wurzeln helfen, die über den Gehweg wachsen, oder umgefallene Fahrräder aus dem Weg räumen. Ständig hält er Ausschau nach dem abgesenkten Bordstein.

„Dieses Projekt ist ganz besonders.“

Svenja Goluch

Heiko reist selbst leidenschaftlich gern. Um das auch Menschen im Rollstuhl zu ermöglichen, hat der gelernte Krankenpfleger vor acht Jahren die RollstuhlErlebnisreisen ins Leben gerufen. Die gemeinnützige Unternehmensgesellschaft bietet Tagesausflüge nach Norddeutschland und Viertagesreisen nach Hamburg an. Neben seinem Hauptjob als persönlicher Assistent hat er ehrenamtlich schon knapp 60 Reisen organisiert. „Anfangs war ich sehr nervös“, gesteht er und grinst. „Heute bin ich relaxter.“

Für Heiko steht Selbstbestimmung an erster Stelle. „Die Reisen sind kein Charity-Mitleidsding“, sagt er. „Svenja ist der Boss. Sie entscheidet.“ Svenja hat Spastiken in Armen und Beinen. „Im Kopf bin ich völlig klar.“ Lange hat sie eine Möglichkeit gesucht, nach Hamburg zu reisen. Doch da Svenja von Grundsicherung leben muss, war das für sie unbezahlbar. Als sie im Internet auf die kostenlosen Rollstuhlreisen stieß, konnte sie es nicht glauben. Das hört Heiko oft. Deshalb besucht er die Teilnehmer:innen vor jeder Reise.

Als er einige Wochen vor Svenjas Urlaub in ihre Wohngruppe in Essen kommt, besprechen sie Svenjas Wünsche: Unbedingt möchte sie ins Musical „König der Löwen“ und ins Millerntorstadion.

Ende Oktober ist es so weit: Svenja kommt begleitet von einer Pflegerin, die die Reisen unterstützt, mit dem Zug nach Hamburg. Hier schläft Svenja im inklusiven Stadthaushotel. Dort gibt es ein Pflegebett, das Svenja braucht. Heiko und seine Kollegin teilen sich die 24-Stunden-Assistenz für Svenja. Die Pflegerin bekommt eine Aufwandsentschädigung. Heiko ist Gesellschafter der Erlebnisreisen und dort nebenberuflich angestellt. Das Projekt ist auf Spenden angewiesen. Um volle Gehälter zu zahlen, fehlt das Geld.

Tagsüber fährt Heiko mit Svenja im barrierefreien Bus der Erlebnisreisen durch die Stadt. Neben Stadion- und Musicalbesuch macht Svenja eine Hafenrundfahrt, besucht ein Konzert in der Elbphilharmonie, fährt auf den Feldstraßenbunker, in den alten Elbtunnel – und bekommt eine private St.-Pauli-Führung.

Das Grinsen auf ihrem Gesicht wird immer breiter. „So eine tolle Reise habe ich noch nie erlebt“, sagt sie. „Wir kennen uns noch nicht lange, aber ich vertraue Heiko komplett.“

Bratwurst-Stopp bei Lucullus auf der Reeperbahn. Svenja, Dauerkartenbesitzerin des Fußballvereins Rot-Weiß Essen, erzählt aus ihrem Alltag: „Die Sitze im Stadion sind scheiße.“ Ihr Grinsen verschwindet. „Wenn ein Tor fällt und um mich herum alle aufspringen, sehe ich nichts mehr.“ Auch der öffentliche Nahverkehr würde es ihr oft schwer machen. „Ich bin auf die Busfahrer angewiesen. Sie müssen aussteigen und die Rampe für mich runterklappen“, sagt sie. „Das machen die aber nicht immer.“

Heiko Reh hält Svenja Goluchs Reise mit der Kamera fest. Foto: Therese Walther/www.sucherin.de

Svenja will raus – wie alle Menschen. Sie will was erleben, sich neuen Herausforderungen stellen. Ihre Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen unterfordert sie. „Ich will normal arbeiten.“ Sie seufzt. „Ich glaube, die Gesellschaft hat Angst, uns eine Chance zu geben, weil sie dann in den Firmen viel umbauen müsste.“

Heiko kennt diese Hürden. Damit er noch mehr Menschen wie Svenja eine Auszeit ermöglichen kann, versucht er Fördergelder einzuwerben – bislang erfolglos. Svenja ist sich sicher: „Dieses Projekt ist ganz besonders. Das muss einfach überall bekannt werden.“

Nach der Bratwurst-Pause fragt Heiko: „Kannst du noch, Svenja?“ „Na klar! Der Rolli hat noch Saft!“ Svenja drückt den Joystick nach vorn und nimmt Kurs auf den Hafen – immer Heiko hinterher. Jetzt geht’s zum „König der Löwen“.

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 384

Hamburg geht wählen

Schwerpunkt Wahlen: Wie wollen die Parteien in Bürgerschaft und Bundestag Wohnungslosigkeit und Armut bekämpfen? Außerdem: Baulücken in Hamburg, Reisen für arme Menschen mit schweren Behinderungen und 100 Jahre alte Nachrichten.

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Autor:in
Luca Wiggers
Luca Wiggers
1999 in Hannover geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist Anfang 2022 nach Hamburg gezogen. Seit Juni 2023 Volontärin bei Hinz&Kunzt.

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