Der Hafensenator beschwört den Kaufmannsgeist, der Bürgermeister muss zu Hause bleiben. Wie vor 50 Jahren die Partnerschaft zwischen Hamburg und Leningrad begann
(aus Hinz&Kunzt 171/Mai 2007)
1957. Deutschland ist auf Westkurs und freut sich übers Wirtschaftswunder. Die Regierung Adenauer hat diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion aufgenommen, aber seit sowjetische Soldaten den Volksaufstand in Ungarn niedergeschlagen haben, ist Distanz angesagt. Just zu dem Zeitpunkt erhält der Hamburger Senat eine Einladung nach Leningrad. Wie der bürgerlich-konservative Block mit Bürgermeister Dr. Kurt Sieveking (CDU) die bundespolitisch brisante Angelegenheit behandelte, hat Detlev Brockes nachvollzogen.
27. März. Am Hamburger Rathaus weht die rote Flagge mit Hammer und Sichel. Der sowjetische Botschafter Andrej Smirnow absolviert seinen Antrittsbesuch. Für Bürgermeister Sieveking hat er einen Brief dabei: Der Stadtsowjet von Leningrad lädt eine Delegation aus Hamburg ein – um die „Beziehungen zwischen unseren Ländern“ zu verbessern.
3. April. Das Auswärtige Amt in Bonn will es genau wissen: Hat der Bürgermeister die Einladung nur entgegengenommen oder hat er sie angenommen? Diplomatische Feinheiten, die für deutsche Außenpolitik einen großen Unterschied machen. Der Mitarbeiter in der Hamburger Vertretung hat das Gefühl, „dass die Annahme nicht sehr gebilligt würde“.
9. April. Jetzt ist es offiziell: Eine Senatsdelegation mit Sieveking werde nach Leningrad fahren, teilt die Staatliche Pressestelle mit.
11. April. Ein Bürger, einst Kriegsgefangener in Russland, hat von der Reise in der Zeitung gelesen. Er schickt Sieveking einen getippten Din-A5-Zettel mit russischen Wendungen samt Aussprache. Die Russen würden sich „unbändig freuen“, wenn man sie in ihrer Sprache anrede. In einem anderen Brief bittet die Mutter eines gefallenen Soldaten um Nachforschung, ob deutsche Soldatengräber bei Leningrad noch bestehen.
19. Juni. Gespräch im Auswärtigen Amt, Hamburg wird eingenordet. Die deutsche Außenpolitik wolle die Russen nach dem Ungarn-Aufstand 1956 „gesellschaftlich kurzhalten“, heißt es im Vermerk der Senatskanzlei. Besuche passen da nicht. Aber wenn die Hamburger doch fahren, so das Auswärtige Amt, könnten sie das Schicksal der Deutschstämmigen ansprechen, die in Russland auf Ausreise warten.
Bürgermeister Sieveking gehört zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zur Delegation. Offenbar auf Druck von Bundesregierung und Bundes-CDU ist er von der Reise zurückgetreten und begnügt sich mit einem Auftritt bei der Kieler Woche. Stattdessen müssen die FDP-Senatoren ran: Hafensenator Ernst Plate wird die Delegation leiten.
Ansonsten geht es an diesem 19. Juni in Bonn auch um profanere Dinge. In der sowjetischen Botschaft wird besprochen, dass die Delegationsmitglieder sicherheitshalber Nassrasierer mitnehmen, weil nicht klar ist, ob deutsche Elektrorasierer an russischen Hotelsteckdosen funktionieren.
25. Juni: Die Delegation landet in Leningrad. Die Gäste erhalten „große Blumensträuße aus der Hand junger Leningrader Bürgerinnen“, so der offizielle Bericht. Die Ansprachen bleiben allgemein: Es geht um Zusammenarbeit, Verständigung und Frieden.
Politisch unbedenklich sind touristische Sehenswürdigkeiten und gutes Essen. Nach Theaterbesuch und nächtlicher Stadtrundfahrt muss die Delegation „erneut eine reichhaltige Mahlzeit einnehmen“, wie es mit leisem Protest im Abschlussbericht heißt.
26. bis 28. Juni. Die Gäste besichtigen die gerade fertiggestellte U-Bahn, ein neues Wohnviertel, den Schachsaal im „Palast der jungen Pioniere“, die Kunstsammlungen in der Eremitage und gehen ins Ballett. Sie lassen sich den Hafen zeigen und den ehemaligen Zarensitz Peterhof, nach der Zerstörung durch deutsche Truppen originalgetreu wieder aufgebaut.
Mit dem Satz „Das war einmal, das ist vorbei“ gehen die russischen Gastgeber „jovial und geschickt“ über den Krieg hinweg, bemerkt die „Welt“ erfreut. Immerhin hatten deutsche Truppen Leningrad von 1941 bis 1944 belagert. Während der Blockade starben eine Million Menschen, vor allem durch Hunger und Kälte. Ein Trauma, das die Stadt tief geprägt hat.
Aber jetzt geht es um Handel. Im Interview mit Radio Moskau sagt Hafensenator Plate: „Unter Kaufleuten und Hafensachverständigen weht ein anderer Wind, ein Wind, der das gegenseitige Verstehen erleichtert.“ Hamburg und Leningrad sind beide an der Ausweitung des Seeverkehrs interessiert. 1956 wurden im Hamburger Hafen 100.000 Tonnen für die Sowjetunion umgeschlagen. Vor dem Krieg waren es 1,5 Millionen Tonnen jährlich.
Beim Abschiedsempfang in der Datsche des Stadtsowjets, einem prunkvoll möblierten Schlösschen, schenken Kellner im Smoking fünf Sorten Wein aus. Plate sagt: „Wir können zwar kein Russisch, aber wir wollen mit den Russen reden.“ Beifall. Und er spricht die Gegeneinladung nach Hamburg aus.
In ihrem Bericht wird die Delegation später schreiben, Leningrad sei „eine der schönsten Städte der Welt“. Aber in der prächtigen Architektur mache die Bevölkerung „einen unfrohen Eindruck“. Bei den Funktionären stellen die Hamburger Gäste einerseits Stolz auf sowjetische Leistungen fest, andererseits einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen. Deshalb empfehlen sie, den Russen durchaus Anerkennung, sogar Bewunderung entgegenzubringen, aber auch sachlich zu schildern, wo der Westen überlegen sei. Und sie plädieren für weitere „freimütige Besuche“.
2. Juli. Die Leningrad-Reisenden sind zurück in Hamburg. Der Leiter der Staatlichen Pressestelle fragt den mitgereisten „Abendblatt“-Redakteur per Brief, ob er gelegentlich die Fotos sehen dürfe, „die Sie in so reicher Fülle bei den Russkis geschossen haben“. Unterdessen beruhigt Hamburgs Vertreter in Bonn das Auswärtige Amt: „Es ist insbesondere von beiden Seiten strikt der kommunale Charakter eingehalten worden.“
Der Rest ist Geschichte: Am 7. Oktober 1957 trifft eine Delegation aus Leningrad zum Gegenbesuch in Hamburg ein. Doch bis die Partnerschaft in Schwung kommt, wird es noch Jahre dauern. Erst mit der Entspannungspolitik in den Siebzigern nehmen die Kontakte zu, mit Glasnost und Perestrojka in den Achtzigern verbessert sich das Verhältnis weiter. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gehen unzählige Hilfslieferungen von Hamburg nach St. Petersburg. Aus dem Treffen vor 50 Jahren ist, so der Senat, eine „Städtepartnerschaft der Herzen“ geworden.
Zusammengestellt aus Akten im Staatsarchiv von Senatskanzlei und Staatlicher Pressestelle.