Die Internationale Bauausstellung kommt, engagierte Bürger sind schon da: Aufbruchstimmung auf der Elbinsel Wilhelmsburg. Entdeckungen zwischen Cafés, Feuchtwiesen und Autobahn
(aus Hinz&Kunzt 174/August 2007)
Früher begann für Hamburger südlich der Elbe der Balkan. Jetzt soll sich das arme Wilhelmsburg, unter anderem durch die Internationale Bauaustellung, in einen blühenden Stadtteil verwandeln – so wie einst Ottensen. Was ist dran an dieser Vision?
Gleich kommen die Kinder. Werden sich auf die Ytongsteine und die Sägen stürzen, um weitere Miniaturhäuser zu bauen. „Zusammenwachsen“ heißt die Aktion der reisenden Künstlerin Kathrin Milan. Gedacht für Kinder und Jugendliche aus den Altbauten an der Vehringstraße. Aber auch die Demenzgruppe drüben von der Diakonie war schon da; das Basteln und Werkeln hat den Alten Spaß gemacht. Die zurechtgesägten Häuser gehören zu einem begehbaren Stadtplan, den Kathrin Milan mit örtlichen Lehrlingen aus dem Fach Landschafts- und Gartenbau auslegt. Vielleicht muss die Stadtlandschaft wieder verschwinden, wenn sie fertig ist. Denn das Brachgelände soll Teil einer neuen Grünanlage werden. „Dabei haben wir hier genug durchgeplante Grünflächen“, sagt Kathrin Milan. „Was fehlt, sind wilde Ecken, die Kinder allein gestalten können.“ Erst neulich seien Leute vom Bezirksamt vorbeigekommen und hätten – ritsch, ratsch – einen der hohen Bäume gefällt. „Das sind die großen Gesten, mit denen man die Veränderung einleiten möchte, während ich mich bücke und sage: Oh, eine Wildblume, das ist ja interessant.“ Und sie lächelt in sich hinein, als wüsste sie genau, dass solch ein sorgsamer und kleinteiliger Umgang derzeit wohl nicht ins Konzept passt. Denn die Hansestadt Hamburg hat mit der Elbinsel Großes vor. Sie möchte Arbeitsplätze schaffen und Wohnungen bauen. Beim Sprung über die Elbe will man in Wilhelmsburg landen. Die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt geht mit gutem Beispiel voran: Sie wird mit 1800 Mitarbeitern von der Innenstadt hinüber auf die Elbinsel wechseln. Wilhelmsburg wird Austragungsort der Internationalen Gartenschau (IGS) 2013 und der Internationalen Bauausstellung (IBA). 78 Millionen Euro will die IGS investieren; 100 Millionen Euro die IBA – für den Ankauf von Grundstücken, für Architekturwettbewerbe, soziale Projekte und Kultur. Allein das Programm für den diesjährigen IBA-Kultursommer umfasst 58 Veranstaltungen – von der Fotoausstellung bis zum Open-Air-Festival. Und das in einem Stadtteil, der seit Jahren kein festes Kino, keinen bekannten Club hat und wo es an Einkaufsmöglichkeiten mangelt. „Als die IBA mit ihrem vielen Geld auftauchte, wurden einige ganz nervös“, erzählt Kathrin Milan, „aber an vielen Wilhelmsburgern geht das völlig vorbei.“ Ihr Projekt wird finanziert durch das Senatsprogramm Lebenswerte Stadt und EU-Geld. Tätig ist auch das Wohnungsunternehmen SAGA GWG, das von 1995 bis 2005 rund 140 Millionen in seine Gebäude investiert hat. Selbst Insider blicken kaum noch durch, wer was fördert. In Wilhelmsburg wird derzeit viel Geld in die Hand genommen.
Woher nun dieser Eifer, dieser Elan? Dem Aufbruch entgegen steht das schlechte Image des Stadtteils. Wilhelmsburg, da tötete doch damals ein Kampfhund den sechsjährigen Volkan. Auf dem Wilhelmsburger Stübenplatz hielt dieser Roland Schill seine erste Rede, und in den umliegenden Straßen holte seine wirre Truppe bessere Wahlergebnisse als die etablierten Parteien. Sicher waren sich die Hamburger auch: Als ihr Bürgermeister nebulös von Stadtteilen sprach, die sozial „gekippt“ seien, war gewiss auch Wilhelmsburg gemeint. Nun aber soll alles anders werden: Auf nach drüben! „Wir sind schon da“, mit diesem Slogan kontern Wilhelmsburger Bürger, die sich seit Jahr und Tag mit der Entwicklung ihres Stadtteils beschäftigen. Sie sind es leid, dass andere so tun, als würden in Hamburgs größtem Stadtteil Barbaren hausen. Einer, der schon da ist, ist Manuel Humburg, niedergelassener Arzt und Mitglied im Verein Zukunft Elbinsel. Mittlerweile wohnt er zwischen Gemüsebauern in Wilhelmsburgs Süden: in Moorwerder – so idyllisch, dass man vor Neid blass wird. Im Nu zeichnet er ein ganz anderes Bild: berichtet von engagierten Sozialarbeitern und Lehrerinnen, die sich über ihr Stundenpensum hinaus um Kinder kümmern. Er verschweigt nicht die Schattenseiten: die enorme Armut besonders in den Blocks, aber auch in den heruntergekommenen Gründerzeitbauten, die teilweise seit Jahrzehnten vor sich hinrotten; das Nebeneinanderherleben unterschiedlicher Kulturen. Ja, es habe Probleme mit Jugendgangs gegeben, die einzelne Straßenzüge beherrscht hätten. Die Wilhelmsburger Zukunftskonferenz 2001 sei auch ein Hilfeschrei gewesen: Lasst den Stadtteil nicht vor die Hunde gehen! Entsprechend weist er die Forderung zurück, alles möge so bleiben und man solle betuchte Neunankömmlinge zum Teufel jagen: „Den Stadtteil so belassen, wie er ist, das geht keinesfalls.“ Humburg ist nicht allzu bange, dass die Insel eine Schicki-Meile wird. Denn es gebe hier eine gute Tradition: Bürger mischen sich ein – zum Beispiel, als es um weitere Verkehrstrassen oder eine Müllverbrennungsanlage ging. „Als in den Siebzigern das Freibad am Assmannkanal geschlossen wurde, hat das niemanden groß aufgeregt. Das wäre heute anders“, sagt der Arzt.
Aufbruchstimmung also. Doch unter der Oberfläche liegen die Nerven blank. Als die evangelische Kirche im Frühsommer die Gründung einer Grundschule verkündete, sorgte das für erhebliche Unruhe. Die Schulleiter der örtlichen Grund- und Gesamtschulen sahen sich zu einer gemeinsamen Erklärung veranlasst. Bei ihnen werde trotz eines hohen Ausländeranteils vorzügliche Arbeit geleistet. Es war ein Versuch, die Eltern zu halten, die man heute „bildungsnah“ nennt: selbst gut ausgebildet, gutes Einkommen, engagiert. „Es wird noch gut zehn Jahre dauern, bis es genug große und dann hoffentlich noch bezahlbare Wohnungen für Familien gibt“, sagt Stefan Schmalfeld vom Hamburger Mieterverein. Man habe den Stadtteil schlicht zu lange treiben lassen. Ähnlich sieht es Heinrich Stüven vom Grundeigentümerverein: „Jahrelang hat uns niemand geglaubt, dass dies ein unglaublich attraktiver Stadtteil ist, in den man investieren sollte.“ Stüven findet klare Worte. „Hamburg hat Wilhelmsburg immer wie eine Müllkippe benutzt und alles, was es nicht haben wollte – von sozialen Problemen über Verkehrsbelastungen bis hin zu Altlasten – dort abgeladen.“ Kein Wunder daher, dass die Bewohner nun besonders genau gucken, was ihnen da Gutes beschert werden soll. Etwa, wenn es um die geplante Bebauung der Feuchtwiesen zwischen dem bürgerlichen Kirchdorf und der Autobahn A 1 geht. Kein originäres IBA-Projekt, trotzdem soll die IBA untersuchen, wie man hier im Grünen 320 neue Wohneinheiten bauen kann. Gedacht für die sagenumwobenen jungen Familien, von deren Zuzug man sich auch in Wilhelmsburg Wunder erhofft.
Harald Köpke fährt in seinem roten, etwas in die Jahre gekommenen, aber grundsoliden Flitzer vor. Er ist Vorsitzender des BUND , Wahlwilhelmsburger seit 25 Jahren und von der hiesigen Sonne braungebrannt. Los geht’s in ein Wilhelmsburg, das ganz anders ist: ländlich statt zugebaut; grün statt grau; abgeschieden statt hektisch. Bevölkert mit Kühen und Pferden; garniert mit reetgedeckten Bauernhäusern. Und über allem schwebt der wolkensatte norddeutsche Himmel. Köpke hält an einer kleinen Siedlung. Weiße, seltsam kantige Häuschen stehen etwas verloren in der Gegend. Die Kirchdorfer Öko-Siedlung, gedacht für Eigenheimbesitzer mit Gewissensbissen und entsprechenden Ambitionen. Köpke zeigt auf die Wiesen dahinter: „Das sollte auch bebaut werden. Aber wer kauft sich hier ein, bei dem schlechten Image, das der Stadtteil hat; wo sich viele nicht trauen, ihre Kinder zur Schule zu schicken.“ Also muckert die Vorzeigesiedlung vor sich hin und will nicht recht in die Gänge kommen. Er fährt weiter, sieht einen Bekannten, bremst. Ob es sein könne, fragt ihn der, dass es hier wieder Waschbären gebe. Gut möglich, nur sollten sich die vor einem gleichfalls wiedergekehrten Bewohner der Elbauen in Acht nehmen: dem Seeadler. Noch vorhanden: der Marderhund, der Eisvogel, der Mauerfuchs, ein seltener Schmetterling. Klar kennt er den Einwand: Wegen einer geschützten Sumpfdotterblume soll man keine Wohnungen bauen? Er trommelt aufs Lenkrad und sagt: „Ich bin jetzt 60, und meine Generation hat die Pflicht, sich um die ökologische Zukunft dieser Welt zu kümmern.“ Er zeigt auf eine gleichmäßig begrünte Fläche – unter der sich tatsächlich Klärschlamm aus dem Hafen verbirgt. Erzählt, wie ihn unlängst ein Nachbar anrief, dass zwölf Ringelnattern auf seinem Kompost in der Sonne liegen. Ganz nebenbei: Hier im Süden Hamburgs gibt es eine Artenvielfalt wie sonst noch am Kaiserstuhl im fernen Baden. Das bleibt nicht so, wenn man sich nicht darum kümmert. Köpke ist nicht gegen die IBA. Im Gegenteil: „Sie kann Gutes bewirken – wenn man sie lässt.“ Er hofft, dass die Planer den Mut aufbringen, sich gegen blanke Wirtschaftsinteressen zu stemmen. Doch es gibt einiges, wo die IBA planen und vorschlagen soll, aber nicht entscheiden darf: die geplante, geräuschintensive Container-Reparaturwerkstatt am Reiherstieg etwa – gegenüber dem Wilhelmsburger Krankenhaus und den angrenzenden Wohnhäusern. Der Spreehafen im Norden der Insel, wo immer wieder vom „Wohnen am Wasser“ geschwärmt wird, wo aber zugleich die Hafenquerspange im Gespräch ist, eine mehrspurige Stadtautobahn für den Hafenverkehr. Auch ist noch unklar, wann endlich der Zollzaun fällt, der den Wilhelmsburgern den Zugang zum Wasser versperrt. Und dann wäre da noch das geplante Kohlekraftwerk drüben in Moorburg, dessen Emissionen sich größtenteils auf den Stadtteil senken würden.
„Ich finde die IBA total cool“, sagt Bettina Kiehn, Geschäftsführerin des Bürgerhauses Wilhelmsburg, zugleich eine der Sprecherinnen im 15-köpfigen Beirat der IBA. Dort sei „ein guter Querschnitt der Inselaktivisten“ vertreten. Das Gremium könne die Stimmung im Stadtteil aufgreifen und weitergeben. Stichwort: IBA-Kultursommer: „Es gibt vor Ort ein wachsendes Unverständnis, dass bestehende Initiativen und Künstler leer ausgehen, während vieles, das von außen kommt, sofort gefördert wird“, erzählt Kiehn. Mancher habe das Gefühl: Was da ist, sei nicht gut genug. Wegen des Wechsels des Stadtteils vom Bezirk Harburg zum Bezirk Mitte wurden gerade mal eben 145.000 Euro an Jugendhilfemitteln gestrichen. Und dann ist plötzlich wieder Geld da! Dieses Grollen an die IBA-Planer weiterzugeben, darin sieht sie eine wesentliche Aufgabe des Beirats. Der Plan, in der Nähe des Rathauses einen See anzulegen, ist bereits vom Tisch. Bettina Kiehn ist sicher: „Die IBA freut sich über den Bürger, der sich einbringt.“ Mitte September will die IBA erste Entwürfe veröffentlichen. Dann wird man sehen, was von den Gerüchten, Ideen und Überlegungen, die derzeit durch Wilhelmsburg schwirren, spruchreif ist. Und was die Wilhelmsburger dazu sagen. So oder so – der Stadtteil wird nicht stillstehen. Mittlerweile hat im Reiherstiegviertel mit seinen hübschen Altbauten das dritte portugiesische Café aufgemacht. Für die einen ein Indiz, dass die Generation Latte Macchiato auch in Wilhelmsburg auf dem Vormarsch ist. Andere aber weisen genüsslich darauf hin: Ein Großteil der leckeren Kuchen und Törtchen, wie man sie in den Portugiesen- Läden in Eimsbüttel oder Ottensen bekommt, wird seit Jahren in einer Großbäckerei auf der Wilhelmsburger Elbinsel gebacken.
Marc-André Rüssau
Elbinsel
Das heutige Wilhelmsburg entstand über Jahrhunderte durch die Eindeichung verschiedener Elbinseln wie Georgswerder, Stillhorn, Kirchdorf und Moorwerder. Je nach Fördertopf und Zielvorgaben werden aktuell mal die Elbinsel Veddel sowie der Harburger Binnenhafen zu Wilhelmsburg gezählt – oder auch nicht. Ab April 2008 wechselt der Stadtteil vom Bezirk Harburg zu Hamburg-Mitte.
IBA Die IBA Hamburg will mehr sein als eine Bauausstellung. Sie bejaht das Konzept der wachsenden Metropole und möchte vernachlässigte Stadtteile wieder an die Zentren anbinden. Sie sieht im Zusammentreffen verschiedener Nationalitäten durchweg Positives. Thema ist auch die Stadt im Klimawandel – wichtig für das von Wasser umgebene Wilhelmsburg. Aufsichtsratschef der IBA ist Bausenator Axel Gedaschko.
SAGA GWG
Verfügt über einen großen Wohnraumbestand im Bahnhofsviertel, im Reiherstieg und vor allem in Kirchdorf- Süd. Zusammen mit der IBA plant man im Reiherstiegviertel dessen Sanierung als „Weltquartier“. Dort wohnen derzeit in 820 Wohnungen 1500 Menschen aus 30 Herkunftsländern zusammen. Durchschnittliche Wohnungsgröße: 24 qm. Wilhelmsburg weist einen überdurchschnittlich hohen Bestand an Sozialwohnungen auf: 37 Prozent gegenüber 14,9 Prozent im Hamburger Durchschnitt.
Statistik Wilhelmsburg ist mit gut 35 Quadratkilometern flächenmäßig der größte Hamburger Stadtteil. Bewohnt wird er von gut 48.300 Bürgern. Pro Einwohner stehen statistisch 28,5 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung – Hamburger Durchschnitt: 36,4 Quadratmeter. Es ist ein sehr junger Stadtteil: 22,7 Prozent sind jünger als 18 Jahre – sonst 16 Prozent. Unter den Schülern beträgt der sogenannte Ausländeranteil 47,6 Prozent gegenüber 17,9 Prozent in Hamburg. Insgesamt beträgt der Ausländeranteil 34,2 Prozent gegenüber 15,3 Prozent in Hamburg. Entgegen Wilhelmsburgs Ruf ist die Kriminalitätsrate nur leicht erhöht: Auf 1000 Einwohner entfallen 167 Straftaten. In Hamburg sonst: 152.