Kann man vor Gericht eine Wohnung vom Staat verlangen, wenn man selbst keine findet? Nein, sagt die Jura-Professorin Pia Annika Lange von der Uni Bremen und erklärt, wie das Recht zur Überwindung der Wohnungsnot beitragen könnte.
Hinz&Kunzt: Wieso steht der Satz „Jeder Mensch hat das Recht auf eine Wohnung“ nicht im Grundgesetz? Wurde er vergessen?
Pia Lange: Nein, er wurde nicht vergessen. Die Väter und wenigen Mütter des Grundgesetzes haben sich bewusst dagegen entschieden, soziale Grundrechte mit in die Verfassung aufzunehmen. Man wollte keine grundlegende Entscheidung für eine bestimmte Wirtschaftsordnung treffen. Außerdem ging man davon aus, dass bei solchen Rechten unklar wäre, wie sie umgesetzt werden sollen. Was soll das für eine Wohnung sein? Wer soll die Wohnung beschaffen, wer soll sie bezahlen?
Was macht eine Wohnung aus juristischer Sicht so besonders, dass Menschen ein Grundrecht darauf haben könnten?
Die Wohnung hat ganz viel mit Privatsphäre zu tun – und die wird über mehrere Grundrechte im Grundgesetz geschützt. Sie bietet mehr als ein Dach über dem Kopf, sondern ist ein Raum des Rückzugs. Wir haben ja auch das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit, das quasi allen Bürger:innen zugesteht, zu tun und zu lassen, was sie möchten. Der Raum, in dem man das am ungestörtesten tun kann, ist die Wohnung. Sie ist der Ort des privaten Wirkens schlechthin.
Mittlerweile leitet das Bundesverfassungsgericht aus der Menschenwürde ein Recht auf eine Wohnung ab. Demnach dürfte es doch eigentlich keine Obdachlosigkeit mehr geben, oder?
Das Gericht hat es dem Gesetzgeber freigestellt, wie er diesen Anspruch auf menschenwürdige Existenzsicherung erfüllen möchte. Er hat sich dafür entschieden, dass es einen Anspruch auf Geldleistung zum Beispiel für Miete, aber keinen auf Übergabe einer Wohnung gibt. Das Problem ist also: Wenn ich keine Wohnung finde, stehe ich erst mal auf der Straße und kann nicht vor Gericht ziehen, um auf eine zu klagen. Dann habe ich nur Anspruch auf eine Notunterbringung – ohne Privatsphäre.
Wenn es doch aber ein Grundrecht auf Privatsphäre gibt, wieso gilt das nicht in diesen Unterkünften?
Die Unterbringung in Notunterkünften soll nur etwas Vorübergehendes sein. Damit rechtfertigt man, dass man hier andere Maßstäbe anlegt als bei der Existenzsicherung, weil der Gesetzgeber seinen Pflichten mit dem Anspruch auf Geldleistung für eine Unterbringung ja schon nachgekommen ist. In der Praxis ist das ein großes Problem, weil die Unterbringung oft zu einem Dauerzustand wird.
Es gibt ja nicht nur das Grundgesetz: Im UN-Sozialpakt, den Deutschland ratifiziert hat, ist das Menschenrecht „eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung“ enthalten.
Wenn man das unbefangen liest, könnte man davon ausgehen, dass alle diesen Anspruch haben. Die Vertragsstaaten haben sich aber nur zur schrittweisen Erfüllung dieser Rechte nach ihren finanziellen Möglichkeiten verpflichtet. Ein solcher völkerrechtlicher Vertrag hat auch viel weniger Durchschlagskraft als die Verfassung, man kann diese Rechte nicht vordeutschen Gerichten einklagen.
Der Bundestag hat aber kürzlich die Möglichkeit geschaffen, sich bei den Vereinten Nationen zu beschweren, wenn man sich in seinen Rechtenverletzt fühlt …
Selbst wenn es vor dem UN-Tribunal eine Verurteilung geben sollte, könnte man leider keinen vollstreckbaren Anspruch auf eine Wohnung daraus herleiten.
Die Bundesregierung hat sich wie die Europäische Union zum Ziel bekannt, Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden. Wird man ab 2031 auf eine Wohnung klagen können?
Das ist erst mal nur eine politische Absichtserklärung. Sie hat keine juristischen Auswirkungen, es sei denn, man entscheidet sich 2030, noch weitere Ansprüche zu formulieren. Ich denke aber, dass es eine wichtige Zielsetzung ist. Deutschland macht da einfach zu wenig. Man könnte überlegen, die juristische Unterscheidung zwischen Notunterbringungen und sozialrechtlichen Ansprüchen aufzuheben und alle Personen von vorneherein in Wohnraum unterzubringen. Damit könnte das Recht zur Überwindung der Wohnungsnot beitragen.
Südafrika hat eine moderne Verfassung mit verschiedenen sozialen Grundrechten, unter anderem gibt es dort das „right to housing“. Welche Erfahrungen gibt es damit?
Eine Bewohnerin, die in verschiedenen Wellblechhüttensiedlungen gelebt hat und mehrmals geräumt wurde, hat ein Urteil vor dem dortigen Verfassungsgericht erkämpft. Das Gericht hat gesagt, dass der Staat einen vernünftigen Plan vorlegen muss, wie er dieses Recht auf eine Wohnung realisieren möchte. Einen Anspruch auf Zuteilung einer Wohnung für die Klägerin gibt es also auch dort nicht. Trotzdem wurde das Urteil gefeiert, weil es gezeigt hat, dass soziale Rechte in der Verfassung verankert werden können und auch justiziabel sind – was beim Schreiben des Grundgesetzes noch bezweifelt worden war.
Beeindruckend, dass die Frau dieses Urteil erstreiten konnte. Auf die Idee, ihre Rechte vor Gericht einzuklagen, kämen die meisten Menschen in Wohnungsnot wohl nicht. Wie kannihnen das Recht dennoch helfen?
Man sollte Hilfe in Anspruch nehmen, wenn man selber nicht dazu in der Lage ist, vor Gericht zu ziehen. Mithilfe von Organisationen kann man seine Ansprüche geltend machen. Es gibt inzwischen mehrere NGOs wie etwa das Büro zur Umsetzung der Gleichstellung, die strategische Prozessführung betreiben, also vor Gericht über den Einzelfall hinaus dafür sorgen, dass ein Anspruch auch zum Standard für andere wird. Man sollte keine Scheu haben, das durchzufechten.