Simon schlug sich in Hamburg fast eineinhalb Jahre auf der Straße durch. Heute spricht und schreibt er über diese einschneidende Zeit – um jungen Obdachlosen mehr Gehör zu verschaffen.
Die Idee war, mit Simon durch die Innenstadt zu gehen. Ein paar Orte abzuklappern, an denen er einst Platte gemacht hat. Volle 16 Monate lang, mitten in der Pandemie. Aber er möchte lieber doch nicht: „Das stresst mich schon enorm“, sagt er und dreht sich eine Zigarette. Warum es ihm so schwerfällt, Menschen von „früher“ zu begegnen, hat er für Hinz&Kunzt aufgeschrieben (siehe unten). „Die Distanz ist vielleicht auch ein Schutzmechanismus“, überlegt er laut.
Rückblick: Ein Flixbus bringt den damals 20-Jährigen aus Berlin nach Hamburg, sein letztes Geld hat er fürs Ticket ausgegeben. Simon fühlt sich getrieben, immer auf dem Sprung. Schon mit 13 Jahren will er von zu Hause weg, raus aus dem kleinen Saarland, weg von den großen Problemen in seiner Familie. Was genau vorgefallen ist, will er nicht sagen, aber: Mit 18 hält ihn dort nichts mehr. Er sucht in Bayern bei Freunden Halt, bleibt nur kurz, dann zieht er weiter: nach Tschechien, dann nach Berlin. Er schläft auf etlichen Sofas, trifft viele Leute, die ihm nicht guttun: „Ich habe Amphetamine, Cannabis und alles andere, was ich in die Finger bekommen konnte, eingeworfen“, sagt Simon.
In Hamburg kennt ihn niemand. Seinen Schlafsack rollt er meist auf der Reeperbahn aus. Tagsüber schnorrt er, manchmal geht er ins Werkhaus in St. Georg. Die Sozialarbeiter:innen dort unterstützen junge Menschen bis 27 Jahren in schwierigen Lebenssituationen. „Ich wollte auch aus dem Lärm mal raus. Stadt ist ja immer laut, wenn du draußen bist“, sagt Simon. Es dauert, bis er sich anderen Menschen anvertraut, auch Streetworkern, die nach dem jungen Obdachlosen schauen. Eines Tages hat wirklich einer ein Wohnungsangebot für ihn. „Die drei Monate bis zum Einzug habe ich kaum noch ausgehalten, ich konnte nicht mehr“, sagt Simon. Dann ist es so weit: Nur mit einem Rucksack und einem „Paket voller Nippes“ zieht er in eine kleine Wohnung ein – und bricht dort psychisch zusammen: Posttraumatische Belastungsstörung.
„Es hat gedauert, bis ich realisiert habe, dass ich jetzt ein paar Quadratmeter auf dieser Welt habe, wo ich sein kann“, sagt er. Eine Therapie hilft ihm dabei. Dass er jetzt bei „Momo“, einer Selbsthilfeorganisation für „entkoppelte“ Jugendliche mitarbeitet, hat für ihn auch etwas Therapeutisches, sagt er. Er kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit, spricht über seine Erfahrungen. Er wünscht sich, dass jungen Obdachlosen mehr zugehört wird. „Aber auch unter Freunden bin ich oft der Einzige, der über Obdachlosigkeit spricht“, sagt Simon. Dabei haben nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) rund 37.000 Menschen zwischen 17 und 24 Jahren in Deutschland keinen festen Wohnsitz – hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer. In Hamburg waren (Stichtag 31.1.2024) insgesamt 720 Menschen unter 25 Jahren in einer städtischen Unterkunft untergebracht, nicht inbegriffen sind junge Obdachlose, die auf der Straße schlafen – so wie Simon einst. Der blickt mittlerweile optimistisch nach vorn: Sein Abi will er nachholen, sich anderen wieder mehr öffnen: „Damals hatte ich mir eine harte Schale antrainiert“, sagt er, „mittlerweile ist da schon ein krasses Bedürfnis nach Liebe in meinem Herzen.“