20 Jahre "Tide"

Radio machen für die Meinungsbildung

Auf drei Sprachen moderiert Carol Kay ihre Radiosendung „Burudika“. Foto: Imke Lass

Fernsehen und Hörfunk produzieren ohne Quotendruck – das geht beim Hamburger Bürger:innen- und Ausbildungskanal Tide. Jetzt wird der Mitmachsender 20 Jahre alt. Ein Besuch im Radiostudio.

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Carol Kay braucht keinen Teleprompter und kein Skript. Nicht mal auf Notizen greift die Frau mit den bunten Armbändern zurück. Zwei Stunden lang moderiert sie ihre Livesendung, nur unterbrochen von Musik, und kommt kein einziges Mal ins Straucheln. Kay moderiert jeden Mittwoch von zehn bis zwölf die dreisprachige Radioshow „Burudika“ bei Tide Radio.

Carols Nachname ist Odeny, aber seit ihrer Jugend kennen alle sie nur unter dem Namen „Kay“. Seit 2015 moderiert die gebürtige Kenianerin die Sendung. Mit stetig wachsendem Erfolg: Allein auf Instagram hat sie mehr als 50.000 Fans, ihre Show wird auch in Ostafrika verfolgt. Burudika ist ein Wort aus der Suaheli-Sprache und bedeutet so viel wie „Spaß haben“.

„It’s the best time of my day“, sagt die Moderatorin über die Zeit im ­Studio, um auf Deutsch hinterherzuschieben: „Hier bin ich so glücklich und entspannt wie nirgendwo.“ Spontan wechselt sie in die dritte Moderationssprache Suaheli. Carol Kay ist ein gut gelaunter Vollprofi: Im leuchtend roten Shirt steht sie vor dem Mikrofon und plaudert über Fake News bei Facebook, flechtet ein kurzes Glaubensbekenntnis ein („God is great“) und grüßt anschließend ihre Follower:innen. Gleichzeitig bedient sie neben einem Laptop noch zwei Smartphones. All das: ohne jede Bezahlung.

Carol Kay arbeitet wie alle Produzierenden ehrenamtlich bei Tide. Der Bürger:innen- und Ausbildungskanal sendet seit 20 Jahren vom Gelände der ehemaligen Frauenklinik an der Hamburger Mundsburg. „Das Radio wurde oft totgesagt. Ich erlebe es anders“, sagt Peter Gehlsdorf, in einem Raum neben dem Studio sitzend. „Die Leute wollen es hören und sie wollen es selbst ­machen.“ Der Chef von Tide Radio, ebenfalls in knalliges Rot gekleidet, ist seit der Gründung im Jahr 2004 dabei. Der Sendebetrieb wird von Rundfunkgebühren finanziert. 2023 waren es knapp unter einer Million Euro – nicht annähernd genug, um einen einzigen „Tatort“ zu produzieren. Gehlsdorf sagt: „Bei uns läuft das, was bei anderen Sendern nicht läuft.

Ob es Musik ist, Lokalinhalte oder Minderheiten­themen. Alles, was die Großen nicht machen, weil es wenig Quote bringt. Man entdeckt so viel beim Hören des eigenen Programms! Und wird in Richtungen gelenkt, die man nie auf dem Schirm hatte.“

Ähnliches gilt für den Schwestersender Tide TV, der mehr als 60 regelmäßige Fernsehsendungen produziert. Medienerfahrung ist nirgendwo erforderlich. Interessierte können ein Konzept einreichen, anschließend wird in der hauseigenen Tide Akademie das Handwerkszeug vermittelt. Im Gegensatz zum selbst gemachten Youtube-Video wird in Studios mit modernstem Equipment produziert. Der Marktanteil liegt offiziell unter ­einem Prozent. Gehlsdorf vermutet deutlich höhere Zahlen, denn bei den Umfragen zu Hörgewohnheiten werden nur deutsche Staatsbürger:innen befragt. Und Tide Radio ist besonders bei Nichtdeutschen beliebt.

Der Sender hat 130 Sendungen im Angebot. Es gibt queere Programme, eine deutsch-türkische Morningshow, Fußball-, Jazz- und Schlager-Sendungen. Motto: „Tide – immer anders“. Gehlsdorf sieht Tide als Beitrag zur demokratischen Meinungsbildung. Die Bürger:innensender seien die dritte Säule des Rundfunks, „neben den Privaten und den Öffentlich-Rechtlichen. Bei uns darf jeder ­innerhalb des rechtlichen Rahmens senden, auch wenn die Meinung nicht mehrheitsfähig ist.“

Das Programm von Burudika eckt dagegen kaum an. Bei Carol Kay, die auch unregelmäßig im Fernsehen bei „Burudika TV“ auftritt, gibt es ­keinen Platz für Negativität oder kon­troverse politische Debatten. Es ist eine heitere Sendung mit viel sorgloser Musik in Dur: Reggae, Afrobeats, Pop und RnB. „Carol hat Radiopreise gewonnen, sie spricht gezielt die ostafrikanische Community an“, so Gehlsdorf. „Und sie beweist: Integration ist keine Einbahnstraße. Weil sie auch auf Deutsch moderiert und den Deutschen unterhaltsam eine andere Kultur zeigt.“
Es ist kurz vor zwölf Uhr, Carol Kay verabschiedet sich von ihrem Publikum: „Have a great day, I love you all!“ Die Zuneigungsbekundung ist nicht aufgesetzt. Der Facebook-Livestream wird abgeschaltet; Carols Lächeln bleibt.

Artikel aus der Ausgabe:

Gut geschlafen?

Wie schlecht Obdachlose schlafen – und was das für ihre Gesundheit bedeutet. Wieso es im Stadtteil Niendorf Widerstand gegen neue Hilfseinrichtungen gibt. Außerdem: Besuch im Zusatzstoffmuseum und Interview mit Kettcar-Bassist Reimer Burstorff.

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Autor:in
Jan Paersch
Freier Kulturjournalist in Hamburg. Zwischen Elphi und Stubnitz gut anzutreffen - und immer auf einen Espresso.

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