Die Esso-Häuser an der Reeperbahn sind vom Abriss bedroht, aber die Bewohner wehren sich dagegen. Wir haben sie gefragt, was der drohende Verlust ihres Zuhauses und der Protest dagegen mit ihnen macht.
(aus Hinz&Kunzt 239/Januar 2013)
Zlatko Bahtijarevic sieht nicht aus wie jemand, der Angst hat. Der kräftige Kerl mit den nach hinten gegelten Haaren sitzt im Planet-Pauli-Pub am Spielbudenplatz. Er sieht aus, als würde er vor Selbstvertrauen nur so strotzen. Seit fünf Jahren gehört ihm die Kneipe jetzt. Er führt sie als Familienbetrieb, auch seine Frau und seine beiden erwachsenen Kinder arbeiten hier. Die Familie hat alles auf eine Karte gesetzt: „Ich habe Existenzangst“, sagt Zlatko. Zu Recht.
Die Kneipe gehört zur Gewerbezeile der Esso-Häuser und soll zusammen mit den Wohnblocks abgerissen werden. Zumindest, wenn es nach dem neuen Eigentümer geht: 2009 kaufte der Münchner Immobilien-Gigant Bayerische Hausbau das Areal. Seitdem plant er Abriss und Neubau des in den 1960er-Jahren errichteten Gebäudekomplexes samt der weltberühmten Esso- Tankstelle. Entstehen soll an der Stelle ein Drittelmix aus Sozial-, Miet-und Eigentumswohnungen. Dadurch steigen die meisten Mieten im Haus und drumherum, befürchten die Bewohner. Zehn Euro zahlt man hier für den Quadratmeter. Wer einen alten Vertrag hat, zahlt deutlich weniger.
Nicht nur Zlatko hat Angst. Viele der Bewohner und Gewerbe-treibenden haben sich zur „Initiative Esso-Häuser“ zusammengeschlossen und versuchen, den Abriss zu verhindern. Sie sprechen mit Investoren und Politikern, veranstalten Demonstrationen, halten die Fahne in den Wind und ihre Gesichter in die Fernsehkameras. Und das bereits seit Jahren. Moderner Häuserkampf auf St. Pauli. Auch Zlatko engagiert sich in der Initiative. Vor seiner Kneipe hat er ein Schild aufgehängt: „Kein Abriss der Esso-Häuser!“ steht da mit dickem schwarzen Filzstift auf gelber Pappe geschrieben. Es ist nicht das einzige Schild an der Häuserfront. Jeder soll sehen, was die Menschen hier umtreibt. Es ist die Sorge um das alte St. Pauli, um gute Nachbarschaft, um bezahlbare Mieten. Kurz: die Sorge um einen Lebensstil.
„Für mich ist dieses Gebäude das Herz von St. Pauli“, sagt Zlatko. „Das ist eine emotionale Immobilie.“ Nach einem Abriss könnte es damit vorbei sein, befürchtet er. „Das wird der letzte Sargnagel für das St. Pauli sein, wie wir es lieben.“ Statt viele kleine Geschäfte und Kneipen würden teure Filialen großer Ketten auf dem Kiez entstehen, sagt der Kneipier. Mietsteigerungen im Viertel würden die Folge sein, die Verdrängung der alten Bewohner weiter voranschreiten. „Die Leute, die St. Pauli in der ganzen Welt berühmt gemacht haben, werden es sich nicht mehr leisten können.“ Zlatko nimmt kein Blatt vor den Mund und er kennt sich aus. Aber selbst Politik machen war für den 43-Jährigen erst mal neu. „Weil ich selbst betroffen bin, bin ich auch politisch aktiv geworden“, sagt er. Inzwischen ist er fast schon Experte für die Debatte um das sperrige Wort Gentrifizierung: „Durch mein Engagement in der Initiative durchblicke ich die Zusammenhänge immer mehr.“
Was er da lernt, gefällt Zlatko gar nicht: „Die Tendenz geht dahin, dass nur die Leute, die gut betucht sind und viel Geld haben, sich das Recht auf Stadt erkaufen können“, sagt er. Plötzlich ist er mittendrin in den Hamburger Auseinandersetzungen um dieses Recht. Inzwischen spricht er so selbstverständlich über das Gängeviertel, die Rote Flora oder die Hausprojekte in der Hafenstraße, als hätte er sie selbst mit besetzt. Auch das ist besonders bei dieser Initiative: Engagiert sind eben nicht nur die üblichen Verdächtigen, sondern fast alle, die in dieser Auseinandersetzung etwas zu verlieren haben. Die meisten Hamburger sind auf seiner Seite, glaubt Zlatko. Durch die Arbeit der Initiative sei der Fall Esso-Häuser zum Politikum in der Stadt geworden.
Ob das reicht? „Es ist derzeit nicht vorhersehbar, wie der Konflikt ausgeht“, sagt er. „Der Gegenspieler ist bärenstark.“ Aufgeben steht für ihn aber nicht zur Debatte: „Wir kämpfen sowieso.“ Er sagt das mit einer Selbstverständlichkeit, die beeindruckend ist. Von Resignation keine Spur. Einmal in der Woche trifft sich die Initiative in Zlatkos Kneipe, um ihre Aktionen zu planen: Musiker, Fernfahrer, Travestiekünstler, Studenten, Rentner, Schüler und ein Professor haben mit der Bayerischen Hausbau einen gemeinsamen Gegner. Das verändert auch das Miteinander in der Nachbarschaft: „Seitdem das Haus von Abriss bedroht ist, habe ich die Nachbarn besser kennengelernt“, sagt Julia Priani.
„So was schweißt zusammen.“ Für die 27-Jährige noch ein Grund mehr, die Esso-Häuser zu lieben. Als die Psychologie-Studentin die Tür zu ihrer Einzimmerwohnung im siebten Stock öffnet, offenbart sich ein fantastisches Panorama über Hamburg. Zwar ist es neblig und es regnet, aber am Horizont sieht man die Kräne vom Hamburger Hafen. Durch die geschlossenen Fenster dringt leise der Verkehrslärm der Reeperbahn. Julias Wohnung schreit förmlich: „Hier ist St. Pauli!“ Seit 2007 lebt Julia über der lautesten Partymeile der Stadt. Zusammen mit einer Freundin, die nebenan wohnt, ist sie in den Esso-Häusern gelandet. Eher zufällig: „Wir wollten schon immer in einem Hochhaus wohnen“, sagt Julia. So kennt sie es noch aus ihrer Kindheit in Kiew.
Das Leben hier bedeutet für Julia auch Freiheit. „Du kannst hier ganz schön viel Quatsch machen“, sagt sie. Beschwerden über laute Musik gibt es nicht, dafür aber nette Nachbarn: „Wenn ich Hilfe brauche, weiß ich, von wem ich welche bekommen kann.“ Für ihr Zuhause will Julia eintreten. Von Beginn an hat sie sich in der Initiative engagiert, die die Häuser vor dem Abriss bewahren will. So ein politisches Engagement war zunächst ungewohnt für sie. „Ich komme aus einer ganz anderen Kultur“, sagt Julia, die in der Sowjetunion aufgewachsen ist. Dort wurde Aktivismus nicht selten vom Staat bestraft. „Meine Mutter hält jedes politische Engagement für gefährlich.“ Aber auch die anderen Bewohner hatten vorher keine Ahnung, wie man Häuser vor dem Abriss rettet. „Die Leute hier wussten nicht, wie man sich wehrt“, sagt Julia. „Viele hatten nicht einmal einen Begriff von einer Initiative.“
Nach drei Jahren Engagement haben den wohl inzwischen alle. „Es ist interessant“, sagt Julia. „Man lernt sehr viel dabei.“ Zum Beispiel, dass man eine größere Wirkung erzielt, wenn man sich mit anderen zusammenschließt, die dieselben Sorgen haben. „Es ist gut, dass sich viele Leute Gedanken machen“, sagt Julia. „Über uns, das Haus, das Viertel.“ Sie fasst das in einem Satz zusammen: „Demokratie ist mehr als das Abgeben der Stimme an die Politiker.“ Wäre das so, der Abriss der Esso-Häuser wäre längst beschlossen. Ohne die Initiative hätte es wohl auch keine öffentliche Debatte über die Zukunft der Häuser gegeben, die Entscheidung wäre im Bezirksamt gefällt worden. Menschen wie Julia, die sich für ihre Interessen einsetzen, holen die Politiker wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. „Wenn ich mit Herrn Grote rede, erinnere ich ihn daran, dass er das Volk vertritt und keine milliardenschweren Konzerne“, sagt sie selbstbewusst. Andy Grote ist der Bezirksamtsleiter, der die Verhandlungen zwischen Bewohnern und Investor begleitet.
Für Evi Madejski ist St. Pauli schon seit 17 Jahren ihr Zuhause. 1995 ist sie von St. Georg auf die Reeperbahn gezogen. Erst ins Niebuhr-Hochhaus, 2000 dann in die Esso-Häuser. „Das hat sich so ergeben“, sagt sie: Die 66-Jährige hat früher im Schmidts Tivoli gearbeitet und spätestens dabei den Stadtteil lieben gelernt. „Die Gegend ist doch schön!“, sagt Evi, die ihre Rente mit Hartz IV aufstockt und hier zusammen mit ihrem Enkel wohnt. „Aber früher war’s noch schöner, bevor dieser ganze Schickimicki-Kram hier war.“
Inzwischen hängt sie an St. Pauli, auch wenn Evi immer mehr Nachbarn hat, mit denen sie nichts gemeinsam hat. „Die Betuchten“ nennt sie die Zugezogenen, die zum Beispiel im Brauereiquartier wohnen. „Mit denen hat man keinen Kontakt. Die bleiben unter sich.“ Evi sitzt in Jogginghose auf ihrem dunkelbraunen Kunstledersofa. Im Aschenbecher auf dem Wohnzimmertisch glüht eine Zigarette. Gemütlich hat sie es hier zwischen den knallrot gestrichenen Wänden und den vielen Zimmerpflanzen. „Das sind doch keine Wohnungen zum Abreißen“, sagt sie. Ein bisschen Verständnis hat sie aber trotzdem für die Bayerische Hausbau, die ihr Zuhause am liebsten dem Erdboden gleichmachen möchte: „Wenn ich so ein Millionending kaufen würde, würde ich das auch abreißen.“ Na klar wolle der Investor Profit machen, das sei nun mal sein Geschäft.
Aber menschlich hat sie einiges dagegen: „Die machen sich gar keinen Kopf, was das für die Menschen bedeutet“, schimpft Evi. „Du kannst ’nen alten Baum nicht nach Billstedt versetzen!“ Denn das ist die größte Sorge, die sie umtreibt: Dass sie nicht mehr in den möglichen Neubau einziehen darf und anderswo auf St. Pauli keine Wohnung findet, die sie sich leisten kann. Zwar hat der Investor einen möglichen Wiedereinzug zu gleichen Konditionen versprochen, aber „den Bayern“ traut Evi nicht über den Weg. Schließlich weigern die sich inzwischen sogar, mit der Initiative zu sprechen. Deswegen hat sie auf ihre alten Tage noch mal mit dem Protestieren angefangen. „Wenn ’ne Demo ist, dann läufste mit in der Hoffnung, dass es was bringt“, sagt Evi. „Dann hast du es wenigstens versucht.“
Sogar am Runden Tisch mit dem Investor hat sie mal Platz genommen, aber vom „Fachdeutsch“ der Architekten dort nicht viel verstanden. Ob das alles was gebracht hat? „Ich weiß nicht genau“, sagt Evi. „Eigentlich kannst du nur abwarten. Aber mit so viel Widerstand haben die nicht gerechnet.“ Aus einem Regal in der Wohnung im fünften Stock lacht einen Großstadtrevier-Kommissar Jan Fedder von einer Autogrammkarte an. Irgendwann könnte Evi mit seinen Kollegen Bekanntschaft machen, denn freiwillig will sie das Haus nicht verlassen. Sogar an einer Hausbesetzung würde sich die rüstige Rentnerin beteiligen: „Illegal? Schietegal!“, sagt sie und lacht. „Wenn es hart auf hart kommt, machen wir das so.“
Ob es so weit kommt? Gerade vermittelt das Bezirksamt zwischen den Parteien und lässt ein Gutachten erstellen, ob sich eine Sanierung rechnen würde. Dafür gibt es „einen durchaus ernsthaften fünfstelligen Betrag“ aus, sagt Bezirks-amtsleiter Andy Grote. Auf ein gemeinsames Gutachten, das die Bayerische Hausbau finanziert hätte, konnten sich die Beteiligten nicht einigen. Erste Ergebnisse erwartet Grote für Ende Januar. Falls die für einen Abriss sprechen, hat Evi schon einen Plan B: „Manchmal träume ich, dass ich im Lotto gewinne und die ganze Scheiße hier selbst kaufe.“
Text: Benjamin Laufer
Foto: Mauricio Bustamante