St. Georg

„Probesitzen“ gegen Vertreibung

Diese Bank nutzt die „Pokugeln“ für den richtigen Sitz zwischen den Pollern. Foto: Mauricio Bustamante.

Auf dem Hansaplatz in St. Georg stellen Anwohner:innen Bänke und Stühle auf – um zu zeigen, dass der öffentliche Raum für alle da ist.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Zwei Menschen und zwei schnelle Handgriffe, mehr braucht es nicht, um die „Pollerbank“ aufzubauen. Studentin Anna Ulmer und ein Nachbar vom Hansaplatz machen vor, wie es funktioniert: Die Bank ist eigentlich ein langes Brett aus Kiefernholz mit zwei Löchern an der Unterseite. Sie passt genau zwischen zwei Poller, die im Original mit abschreckenden Metallkugeln versehen sind, und bietet so eine Sitz- bzw. Liegefläche für obdachlose Menschen. „Gerade Obdachlose sind ja darauf angewiesen, solche Plätze in der Stadt zu finden“, sagt die Studentin.

„Der öffentliche Raum ist für alle da“, sagt auch Irini Schwab, „auch für Menschen, die nichts kaufen.“ Schwab, Ulmer und zwei weitere Kommilitoninnen studieren Experimentelles Design an der Hochschule für Bildende Künste. Sie haben sich mit Nachbar:in­nen vom Runden Bürgertisch St. Georg zusammengetan, luden Anfang Juni zum „Probesitzen“ ein. Dafür stellten sie insgesamt zwölf ganz unterschiedliche Stühle und Bänke auf. In einer Modul-Bank ist eine Mini-Rutsche integriert. Eine andere Bank verfügt über eine Umrandung aus Stoff, hinter der Mütter stillen können. Mit ihrer Aktion wollen die Nachbar:innen aus St. Georg auf den Mangel an öffent­lichen Sitzgelegenheiten hinweisen.

Die Ruheorte für alle sind auch ein Gegenentwurf zur Vertreibungsarchitektur am Hansaplatz. Seit den 1980er- Jahren wird hier um Obdachlose, Pros­tituierte, Trinker:innen und die Drogenszene gestritten. Der Platz gilt als Kriminalitäts-Hotspot. Heute verfolgen Kameras das Geschehen, auch Bäume sollten für mehr Aufenthaltsqualität sorgen. Bereits 2011 kamen die Poller – Bänke verschwanden gleichzeitig sang- und klanglos. Anwohner Ulrich Gehner ist sicher: „Die Behörden wollen eher verhindern, dass sich Leute hier aufhalten.“ Hinz&Kunzt-Geschäftsführer Jörn Sturm fragt: „Wer entscheidet eigentlich über den Gemeingebrauch von öffentlichem Raum? Wer sagt, wer wo wie lange sitzen oder betteln darf und wer nicht?“

Das alternative Stadtmobiliar einfach stehen zu lassen ist aber keine Option. „Das schmeißt die Stadtrei­nigung sofort weg“, fürchtet Studentin Irini Schwab. Doch es gibt eine Lösung: Alle Sitzgelegenheiten haben Pat:innen. Die „Pollerbank“ steht nun vor dem Hinz&Kunzt-Haus in der Minenstraße. Bei der Kirchengemeinde St. Georg-Borgfelde ist die Modul-Bank inklusive Kinderrutsche eingezogen: „Wir haben vor unserer Lebensmittelausgabe immer lange Schlangen, da sind wir über jede Wartemöglichkeit froh“, sagt Pastorin Elisabeth Kühne. Während die Erwachsenen warten, können die Kinder spielen. An der Forderung der Nachbar:innen ändert das nichts: Auf dem Hansaplatz braucht es dringend mehr Sitzmöglichkeiten für alle – ohne Konsumzwang.

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Autor:in
Simone Deckner
Simone Deckner
Simone Deckner ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Kultur, Gesellschaft und Soziales. Seit 2011 arbeitet sie bei Hinz&Kunzt: sowohl online als auch fürs Heft.

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