Wie viel Biss haben deutsche Comics? Die Alligatorfarm will gegen die großen Verlage antreten
(aus Hinz&Kunzt 156/Februar 2006)
Zigaretten, schwarzer Kaffee und ein kleines Zimmer, in dem lediglich eine Schreibtischlampe Licht spendet. Ist das alles, was ein Comiczeichner braucht? Leider nicht.
Er braucht einen Markt, auf dem seine Superhelden die Welt retten können. Vor allem jedoch einen Helden, der seinen eigenen Stil, seine Identität entwickelt hat. Die Zeiten, in denen zerfledderte Fix-und-Foxi-Hefte aus den Hosentaschen ragten und weitergetauscht wurden, sind vorbei. Derzeit ist der deutsche Markt eher eine Kopie seines französischen und amerikanischen Bruders.
So wirkt die Lage in Deutschland düster für jeden, der Comics professionell veröffentlichen will. Es gibt nur wenige Jobs und kaum Ausbildungsmöglichkeiten, ganz im Gegensatz zu den USA oder dem frankobelgischen Raum, wo Eigenproduktionen üblich sind. In Deutschland werden vor allem Lizenzausgaben aus dem Ausland verkauft. Deutsche Produktionen haben weniger als 20 Prozent Marktanteil, heißt es beim Carlsen-Verlag, einem der Marktführer. Für Birger Thorin Grave, Dozent an der Hamburger Technischen Kunstschule (HTK), ein typisch deutsches Problem: „Wir glauben nicht an uns. Wir investieren nicht in unsere Kreativen.“
Das würde Karl Nagel, Urheber der Anfang 2005 gegründeten Alligatorfarm, so nicht unterschreiben wollen. Er und sein knapp 30-köpfiges Team des Studios für Comic und Illustration glauben an sich und ihr Vorhaben, den zwei großen Verlagen der Branche, Carlsen und Ehapa, zu trotzen. Sie wollen der Welt zeigen, dass Comics der Spitzenqualität aus deutschen Bleistiftspitzen keine Sache der Unmöglichkeit ist. Auf 76 Quadratmeter Bahrenfelder Wohnfläche kann sich das Team mit Hilfe von Stift und Pinsel, Mac und Scanner richtig austoben. Hier, zwischen Tausenden von Comics, Hunderten von Filmen und Büchern ist Langeweile ein Fremdwort.
Auch für Karl Nagel selbst. Als Peter Altenburg geboren, initiierte er bereits als 20-Jähriger mit Karlheinz Borchert das Illustrations-Fanzine „Fantastrips“. Wegen einiger Querelen trennte sich Nagel von „Fantastrips“, kündigte seinen Job als Industriekaufmann „und sorgte als Karl Nagel in der Punkszene für Furore“, wie man dem Webauftritt der Alligatorfarm entnehmen kann. An Nagel, der seinen Spitznamen einem großen Eisennagel verdankt, den er während seiner Punkzeit stets um den Hals trug, hätten die Macher der „Du bist Deutschland“-Kampagne ihren Spaß: Anfang der Achtziger war er Herausgeber des Punk-Fanzines „Hackfleisch“, rief 1982 die Chaos-Tage ins Leben, sang in diversen Punk-Kapellen und war bis vergangenes Jahr für die „Anarchistische Pogo Partei Deutschlands“ aktiv, für die er 1998 sogar als „Kanzlerkandidat“ in den Wahlkampf zog. Seitdem ist es etwas ruhiger um den heute 45-Jährigen geworden. Doch Erinnerungen bleiben: So ist der Name Alligatorfarm ein Überbleibsel aus Nagels Musikerzeit, als er unter diesem Namen Platten vertrieb.
Erinnern wird sich auch der eine oder andere Comicfan, wenn er Ende März ein Heft mit dem Titel „Perry Rhodan“ in den Händen hält. „Unser Mann im All“, der bereits vor 30 Jahren den internationalen Comicmarkt eroberte, wird nun von den Hamburger Alligatoren aus dem Dornröschenschlaf geküsst. Nagel sorgt für die Auferstehung Rhodans, indem er mit den Stories für die Hefte 130 bis 133 direkt an die letzte Ausgabe anschließt. Die Zeichner tun ihr Übriges, um an das Feeling der Siebziger anzuknüpfen und die Leute zu erreichen, die Perry schon damals mochten. So bekam der Superheld die vollste Zuwendung der Alligatorfarm zu spüren. Unter anderen von der passionierten Zeichnerin Simone Kesterton (22), Studentin an der HTK: „Drei oder vier Leute haben die Anfangsskizzen gemacht, an diesen Skizzen haben weitere Kollegen gearbeitet und korrigiert. Schließlich haben an Perry Rhodan ungefähr 17 Leute gezeichnet.“ Sie betont: „Wir wollen Perry etwas modernisieren, aber keinen damit überfordern.“
Im Gegensatz zu Perry Rhodan ist der Comic „Elbschock“ eine komplette Eigenproduktion, der ausschließlich die Hansestadt als Bühne dient. So soll Hamburg die neue Metropole der Comic-Helden werden. Gewöhnungsbedürftig? Sicherlich, aber ein Weg zur eigenen Identität. Nicht nur Hamburger Jungs und Deerns dürfen sich ab Mitte des Jahres auf die Geschichten über den Kannibalen von Rothenburgsort und den von Aliens zerstörten Michel freuen, denn die Comics werden deutschlandweit zu haben sein. Nagel verkündet: „Heftige Stories, über die man sprechen wird.“
Was manche vielleicht als geschmacklos bezeichnen, ist für die Farmcrew die Chance, bald in aller Munde zu sein und Einnahmen zu verbuchen. Denn momentan finanziert sich das Studio noch in erster Linie über Webprogrammierung und Illustrationen. Bis die finanzielle Durststrecke überwunden ist, kann Nagel seinen Mitarbeitern nichts bezahlen: „Ein Gehalt kriegt hier niemand, wohl aber eine Beteiligung im Erfolgsfalle“, verspricht er. Doch wie der Volksmund so schön sagt: Geld allein macht nicht glücklich. In erster Linie war es Nagels Absicht, jungen Zeichnerinnen und Zeichnern eine Plattform und ein Forum zu geben – mit dem Ziel der kommerziellen Veröffentlichung von Arbeiten, die unter Anleitung entstehen.
Simone Kesterton jedenfalls ist froh, die Farm gefunden zu haben, wo sie neben ihrem Studium bereits Erfahrungen sammeln kann. Was nach dem Studium folgt, weiß sie noch nicht. Auf jeden Fall will sie so lange weiterzeichnen, bis sie gut genug ist, um in ihrem Traumberuf zu arbeiten.
Wer nicht nur bei Zigaretten und Kaffee für die Schublade zeichnen möchte, kann sich in die Höhle der Alligatoren wagen. Zwar geht der Weg zum Comiczeichner meist über ein Studium zum Kommunikations- oder Grafik-Designer, doch auch das ist kein Patentrezept und erst recht keine Garantie. Deswegen ist donnerstags ab 19 Uhr und jeden ersten und dritten Sonnabend im Monat ab 15 Uhr „offenes Studio“ auf der Alligatorfarm – da kann jeder, egal ob Hobbyzeichner oder Grafikstudent, zeigen, was er draufhat, oder sich einfach mal umschauen.