Pension für Zugewanderte

Sprungbrett in ein besseres Leben?

Radoslav musste trotz geregelter Arbeit im PikAs in einem 8 Bettzimmer mit Obdachlosen schlafen. Foto: Miguel Ferraz

Die Stadt eröffnet als Modellprojekt eine „Pension“ für Zugewanderte aus der Europäischen Union. Doch die Zugangshürden sind hoch.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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An diesem Nachmittag Anfang April hat Radoslaw vor allem einen Wunsch: einen ruhigen Ort zum Schlafen. Der 40-Jährige arbeitet über eine Leiharbeitsfirma für einen Gartenbaubetrieb. Steht morgens früh auf, fährt mit der S-Bahn durch die halbe Stadt, schleppt Pflastersteine – und würde sich dann vermutlich auf sein Sofa legen, wenn es das gäbe.

Doch der Pole mit Gymnasialabschluss hat derzeit keine Wohnung. Aus seiner letzten musste er raus, weil die Vermieterin das so wollte. Und Geld, um etwas Neues anzumieten, hat er nicht. Deshalb verbringt er seine Nächte seit zwei Wochen in der Obdachlosen-Notunterkunft Pik As, gemeinsam mit sieben anderen Menschen in einem Raum. „Ich kann dort nicht schlafen“, sagt Radoslaw. „Der Eine geht um eins ins Bett, der Nächste um drei – und um fünf muss ich aufstehen.“

Ein Jobangebot hat Radoslaw nach Deutschland gelockt. In einer polnischen Zeitung liest er im Dezember 2020, dass eine Firma in Bayern Lkw-Fahrer für den Transport von Altkleidercontainern sucht. In seiner Heimatstadt Lodz gibt es für den Taxifahrer keine Arbeit und kein Auskommen – Corona. Also bewirbt er sich und bekommt den Job. Später arbeitet er auf Baustellen, „mal mit Arbeitsvertrag, mal ohne“. Über eine Internetannonce landet er bei einer Gartenbaufirma in Hamburg, wieder als Fahrer. Zuletzt habe er für ein Unternehmen Möbel ausgeliefert, angestellt bei einem Subunternehmer, erzählt er. Ein gut bezahlter Job – doch Radoslaw verliert ihn, als er es sich erlaubt, ­einen Tag lang krank zu sein. Schon kurz darauf findet er die Anstellung bei der Leiharbeitsfirma. Und ist dort ­zufrieden: „Ich bekomme sogar die Monatskarte bezahlt.“

Radoslaw verliert seinen Job, als er es sich erlaubt, einen Tag lang krank zu sein.

Der muskulöse Mann mit dem freundlichen Lächeln scheint wie gemalt für das neueste Modellprojekt der Stadt: die „Pension für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus der EU“. An zwei Standorten in Eimsbüttel finden seit April Menschen vorübergehend eine kostenlose Bleibe, die „unverschuldet in Wohnungsnot geraten“ sind. Auch „von Ankunftsobdachlosigkeit bedrohte Menschen“ gehören zur Zielgruppe, so die Sozialbehörde weiter. Damit setzt die Stadt eine Idee um, für die Hinz&Kunzt viele Jahre gekämpft hat (siehe H&K Nr. 295 von September 2017): eine Unterkunft speziell für Zugewanderte aus Ost- und Südosteuropa, denen ein Leben auf der Straße droht. Gut 40 Prozent aller Obdachlosen in Hamburg, so die aktuellste Erhebung der Stadt aus 2018, stammt inzwischen aus dem EU-Ausland – Tendenz steigend. 

Einer von zwei Standorten der neuen Arbeitnehmer:innenpension. Foto: Miguel Ferraz

Von den 22 Plätzen der neuen Pension waren bis Redaktionsschluss (18. April) erst drei belegt. Denn die Zugangs­hürden sind hoch: Gleich zwei Beratungsstellen müssen grünes Licht geben, bevor ein Kandidat einziehen kann (siehe Info-Kasten). Auch an anderen Stellen wirft das Konzept Fragen auf: Sechs Wochen höchstens sollen die Menschen in der Unterkunft bleiben, im Notfall ist eine Verlängerung um weitere sechs Wochen möglich. Doch was soll geschehen, wenn Betroffene bis dahin keine neue Bleibe gefunden haben? „Da die Suche nach einer Wohnung erfahrungsgemäß wesentlich länger dauern kann, sehen wir die kurze Aufenthaltsdauer kritisch“, sagt Sandra Berkling von der Hamburger Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW). „Zumal es keinen automatischen Übergang in die öffentlich-rechtliche Unterbringung gibt.“

Kein niedrigschwelliges Angebot

Wer einen Platz in der neuen Pension bekommen will, braucht zunächst die Zustimmung der Servicestelle Arbeitnehmerfrei­zügigkeit von „Arbeit und Leben“, dem Projektträger. Anschließend prüft der „Labour Market Service“ im „Hamburg Welcome Center“ die sogenannte Arbeitsmarktnähe der Bewerber:innen. 

Kriterien dafür sind laut Sozialbehörde Deutsch-Kenntnisse (möglichst A 2-Niveau, im Einzelfall reicht gutes Englisch aus), Schulabschluss, Berufserfahrung sowie „starke Eigenmotivation und keine persönlichen Hemmnisse“. 

Die beiden Standorte der Pension in Eimsbüttel bieten Einzel- und Doppelzimmer und je eine Gemeinschaftsküche zur Selbstver­pflegung. Die Unterbringung ist kostenlos und soll in der Regel auf sechs Wochen begrenzt werden. Wer nach drei Monaten in der Pension keinen Job gefunden hat, dem soll die Rückkehr in die Heimat nahegelegt werden. 

Das Modellprojekt ist auf drei Jahre befristet, nach anderthalb Jahren soll Zwischenbilanz gezogen werden. Schon jetzt ist klar, dass die 22 Plätze nicht ausreichen: Laut letzter Zählung stammen gut 40 Prozent der mindestens 2000 Obdachlosen in Hamburg aus dem EU-Ausland. Fast alle kommen in der Hoffnung auf eine Arbeit, viele landen in prekären Jobs, die oft auch eine überteuerte Unterkunft bieten – mit der Folge, dass die Menschen vielfach beides zugleich verlieren und auf der Straße landen. 

Was oft vergessen wird: Die große Mehrheit der Zugewanderten aus anderen EU-Staaten arbeitet hier in „normalen” Jobs , so wie die meisten Einheimischen auch.

Die AGFW hatte bereits vor zwei Jahren ein Konzept für eine Arbeitnehmer:innenpension vorgestellt. Wer das liest, erkennt schnell, dass nicht alle Wünsche der Fachleute umgesetzt worden sind. Die hielten bis zu sechs Monate Aufenthalt in der Pension für notwendig – nicht sechs ­Wochen. Außerdem ist von einer „Grundberatung vor Ort“, also in der Unterkunft, die Rede. Im Modell der Sozial­­be­hörde sollen die Menschen aber zu den Beratungsstellen ­gehen. „Es bleibt abzuwarten, ob diese Komm-Struktur funktioniert“, sagt Sandra Berkling. 

In den kommenden Wochen wird sich zeigen, wer eine Chance bekommt auf den Sprung in ein besseres Leben. Hinz&Kunzt-Verkäufer Grzegorz zum Beispiel schläft derzeit ebenfalls im Pik As, nachdem er die Monate zuvor in einem Container des Winternotprogramms Unterschlupf gefunden hatte. Der 40-Jährige hat, so erzählt er, schon einige Jobs auf Hamburger Baustellen erledigt. Sein Problem ist: Einen Arbeitsvertrag hat er nie bekommen. Mal sei er schlecht bezahlt worden und mal sehr schlecht. Krankenversichert war er nie.

„Ich würde jeden Job machen“, sagt Grzegorz. Am liebsten wäre ihm erst mal einer in Teilzeit, „Hauptsache legal“. Doch wird er die Gelegenheit dazu bekommen? In seiner Heimat Polen habe er vor allem im Lager gearbeitet und Pizza ausgefahren, erzählt er. Ob das reicht für eine der „Branchen mit aktuell hohem Arbeitskräftebedarf“, die das Modellprojekt laut Sozialbehörde in den Blick nehmen soll? Kurz vor Redaktionsschluss erhält Grzegorz die Nachricht, dass er ins Modellprojekt aufgenommen wird. 

Sein Landsmann Radoslaw durfte schon vor Ostern in die Arbeitnehmer:innenpension ziehen – und ist dort zufrieden. „Ich schlafe sehr gut und kann mir endlich auch mal wieder etwas kochen“, erzählt er zehn Tage nach dem Einzug am Telefon. Die Beratungsgespräche haben ergeben, dass er zunächst sechs Wochen bleiben kann. Nun geht es vor allem um die Frage, wo er danach wohnen wird. Er wolle nach einem Monteurzimmer schauen, sagt er. Und den Chef des Gartenbaubetriebs fragen, ob der vielleicht eine Idee habe. Damit will Radoslaw aber noch ein wenig warten: „Er soll erst mal sehen, dass ich gut arbeite.“ Ob ihm die neue Beraterin bei der Servicestelle Arbeitnehmerfrei­zügigkeit wird helfen können? Sie soll in diesen Tagen
eingestellt werden, um die Gäste der Pension beim Neustart zu begleiten.

Artikel aus der Ausgabe:

Zehn Jahre Lampedusa in Hamburg

Nach der Solidaritätswelle: Wie die Lampedusa-Geflüchteten in Hamburg angekommen sind – und wie die EU sich an ihren Grenzen immer weiter abschottet. Außerdem: Wieso Hamburgs Wohnunterkünfte überfüllt sind wie sich ein Festival gegen Antisemitismus stark macht. 

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Autor:in
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas
Ulrich Jonas schreibt seit vielen Jahren für Hinz&Kunzt - seit 2022 als angestellter Redakteur.

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