500 Hamburger helfen Strichern, ein neues Leben anzufangen
(aus Hinz&Kunzt 121/März 2003 – Die Jugendausgabe)
Jugendredakteurin Annika Sepeur sprach mit dem Stricher Tom und mit Ute und Gesine Plagge, die Menschen wie Tom helfen wollen.
Eigentlich wollte er gar nicht mit mir sprechen. Es ist ihm unangenehm, und dann bin ich auch noch eine Frau. Tom (Name geändert) ist 23 Jahre alt. Er ist groß, schlank, hat braune Haare, und er geht auf den Strich.
„Ein Kumpel hat mich mal hierher gebracht“, erzählt Tom. Die mittlere Reife hat er, aber schon mit 15 ist er von Zuhause weggegangen. „Mein Stiefvater hat mich rausgeschmissen.“ Warum? Tom zuckt die Achseln. „Ich habe mich immer mit ihm gestritten, und meine Mutter stand zwischen uns.“ Er zog „zu Oma“ und danach von Pflegefamilie zu Pflegefamilie.
Toms Blick ist auf den Boden gerichtet. Er fühlt sich nicht wohl auf dem Sofa, er zündet sich eine Zigarette an. „Das war damals ’ne schwere Zeit, mit den Bewerbungen und so.“ Es gab niemanden, der ihn unterstützte. „Die Bezugsperson fehlte mir“, sagt er. Also arbeitete er nach der Schule schwarz – und ging „auch mal“ auf den Strich. „Ein Kumpel meinte, wenn man unabhängig sein und das schnelle Geld machen will, dann wäre das ’ne gute Sache.“
Ein paarmal hat Tom „das“ gemacht. „Am Anfang denkt man halt, dass man unabhängig wäre, aber später findet man raus, dass es nicht so ist.“ Jetzt geht er nur noch gelegentlich auf den Strich, wenn er dringend Geld braucht: „Nicht für Drogen. Ich hab zwar mal Heroin genommen, aber das ist vorbei. Ich gehe bestimmt nicht auf den Strich, mache da Geld klar und renn dann zum Dealer.“
Über Basis e.V. hat Tom inzwischen eine Wohnung gefunden. In die Anlaufstelle für Stricher kommt er immer noch, um sich mit den anderen Kids und den Betreuern zu unterhalten. Denn zu den Leuten, die ihm damals zu seiner „Unabhängigkeit“ geraten haben, hat er keinen Kontakt mehr. „Das ist mir alles viel zu verlogen.“
Die Wohnung bedeutet für ihn den ersten Schritt für einen Neuanfang. „Eigentlich möchte ich eine ordentliche Umgebung für meine dreijährige Tochter schaffen.“ Toms Tochter lebt bei seiner Ex-Freundin. Er sieht sie zwei- bis dreimal die Woche. Die Mutter seines Kindes weiß aber nicht, dass er in der Stricherszene war. „Am meisten Angst habe ich davor, dass sie dem Kind erzählen würde, dass es keinen Vater hat“, sagt er. Leise fügt er hinzu: „Ich habe zwei Gesichter, und ich würde gern nur eines haben. Denn das eine davon ist ziemlich falsch.“
Am liebsten würde er eine Ausbildung als Kfz-Mechaniker machen. Auf jeden Fall irgendetwas Handwerkliches. Zur Zeit arbeitet er allerdings noch schwarz im Hafen. Dass Basis e.V. mehr als 500 Paten hat, die das Projekt unterstützen, findet Tom gut. Außerdem kann er sich vorstellen, dass einige der Paten auch mal „ein beschissenes Leben“ hatten und jetzt den Jungs auf die Sprünge helfen wollen. Trotzdem möchte Tom die Spender nicht kennen lernen, „weil ich mich dann zeigen müsste. Es ist auch immer die Frage, ob einen die Leute verstehen.“
Oft hat er das Gefühl, dass andere Menschen „alles in den Hintern“ gesteckt bekommen. „Da bekomme ich dann so einen Hals, wenn ich in Bus und Bahn die Probleme höre, wie schwer das Leben doch ist und ich daran denke, wie ich kämpfen musste, nur um meinen Kopf über Wasser zu halten.“ Trotzdem oder gerade deshalb ist für ihn eins klar: „Irgendwann, wenn ich auch mal ein bisschen Geld übrig habe, möchte ich auch was spenden, denn ich kann mich wirklich in die Situation der Jungs hineinversetzen.“
Ute Plagge hat sich ganz spontan dazu entschieden, Patin zu werden. In der Kantine sah die 46-jährige Informatikerin in einem großen Datenverarbeitungsunternehmen den Informationsstand von Basis e.V. Sie dachte gleich: „Ja, das ist es!“ Lange schon hatte sich die ausgebildete Germanistin und Mutter zweier Kinder Gedanken über Straßenkinder gemacht. Und das, obwohl sie sich neben dem Job sowieso schon ehrenamtlich engagiert – im Kriseninterventionsteam vom Deutschen Roten Kreuz. Die Mitarbeiter leisten psychosoziale Hilfe, wenn Menschen einen Unfall haben oder Angehörige sich umbringen. „Ich brauche diesen Gegensatz zu meiner schicken, sauberen und teuren Datenverarbeitungswelt“, sagt Ute Plagge.
Kurz vor dem Treffen mit den Leuten von Basis e.V. hatte sie in einer Familie mit mehreren Kindern geholfen. Denen ging es so schlecht, dass „ich das Gefühl hatte, sie irgendwann am Bahnhof wiederzutreffen. Es schien mir einfach so unausweichlich, und da merkte ich, dass manche Kinder verflucht schlechte Chancen haben.“
Beim Patentreffen in der Anlaufstelle zog es sie sofort zu der Wand mit den Fotos der Jugendlichen. „Ich suchte nach den Kindern aus meinem Einsatz und dachte nur: Hoffentlich seid ihr hier nicht drauf. Hoffentlich erkenne ich keinen wieder.“ Und manchmal, wenn sie am Hauptbahnhof ein Mädchen aus dem Milieu sieht, denkt sie bestürzt: „Das könnte auch Gesine sein.“
Gesine ist ihre 16-jährige Tochter – und die Sorgen sind unbegründet. Im Gegenteil. Seit Weihnachten ist die Schülerin selbst Patin. „In letzter Zeit habe ich oft gedacht, was für ein Glück ich habe und dass es einfach als normal angesehen wird, dass wir ein Zuhause haben, all den Luxus.“ Große Konsumwünsche hat sie momentan auch nicht: „Ich hab doch alles, was ich brauche, und warum soll ich mir noch einen CD-Player wünschen.“
Mit sechs Euro pro Monat ist sie jetzt als Patin dabei. Bisher haben Mutter und Tochter noch keinen der betroffenen Jugendlichen kennen gelernt. „Aber das ist auch gut so“, findet Gesine, „schließlich sind die Einrichtungen ja gerade dafür da, dass die Jugendlichen mal zur Ruhe kommen.“ Dafür sind aber die jährlichen Patentreffen „total interessant, weil man da mit Betreuern sprechen kann und wirklich sieht, was mit dem Geld passiert“.
Gesine ist inzwischen schon als „Botschafterin“ tätig: Eine ihrer Lehrerinnen will vielleicht ebenfalls spenden. Außerdem ist Gesine auch in einer Literaturklasse, die regelmäßig Aufführungen macht. „Wir überlegen gerade, ob wir die Einnahmen spenden.“ Scheint so, dass sich Gesine noch lange für die Straßenkids engagieren will. „Mir wird immer wieder klar, dass es Leid nicht nur in anderen Ländern gibt, sondern direkt hier, vor meiner Haustür.“