67 Arme, Wohnungslose und ehemalige Obdachlose aus Hamburg haben den Vatikan besucht. Papst Franziskus hatte sie eingeladen – zusammen mit 4000 anderen Armen aus ganz Europa. Es war eine Reise für die Seele, die keiner so schnell vergessen wird.
Für Robert stand Ende Oktober alles auf dem Spiel: „Und wenn es die letzte Reise wird, die ich erlebe. Ich muss den Papst sehen!“ Der Hinz&Künztler war beim letzten Vorbereitungstreffen für unsere Romreise fest entschlossen. Da ging es ihm allerdings richtig schlecht: Seine Hand hatte sich entzündet, war auf die Größe eines Tennisballs geschwollen, und er konnte sie nicht mehr bewegen.
Außerdem hatte der Alkoholiker doch wieder zur Flasche gegriffen. Die Nächte waren so kalt geworden, dass Robert es auf der Platte ohne Alkohol einfach nicht aushalten konnte. Auch deswegen kamen dem 43-Jährigen immer wieder die Tränen. „Dass ich den Papst sehen darf – das hätte ich nie für möglich gehalten“, sagte der Pole. Nun musste er fürchten, die Reise nicht antreten zu können.
Eine Woche später steht Robert tatsächlich auf dem Petersplatz. „Ich bin so klein“, sagt er, schaut sich um und schüttelt angesichts der riesigen Säulen und Kuppeln des Petersdoms ehrfürchtig den Kopf. Robert hat es geschafft: Ein kurzer Aufenthalt im Krankenhaus wirkte Wunder. So wie auch zwei Nächte in einem Hotelzimmer, die Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer für ihn organisieren konnte. Um Robert vor der Reise dabei zu helfen, seinen Vorsatz in die Tat umzusetzen: keinen Schluck Alkohol in Rom trinken. Jetzt muss er nur noch durch die Sicherheitskontrollen im Vatikan, dann wird er tatsächlich auf Papst Franziskus treffen.
Dass Robert zusammen mit 67 anderen Armen, Wohnungslosen und ehemaligen Obdachlosen aus Hamburg auf dem Petersplatz stehen und auf den Einlass zum Papst warten kann, hat eine lange Vorgeschichte. Sie begann genau hier, zwei Jahre zuvor. 200 Wohnungslose aus Paris hatten sich, begleitet von der Organisation „Fratello“, im Oktober 2014 auf eine Pilgerreise in den Vatikan aufgemacht. Unter ihnen auch Christian, den Franziskus persönlich segnete, wie er es sich so sehr gewünscht hatte. Diese Begegnung war der Grundstein für die Einladung nach Rom, die Franziskus später an die Wohnungslosen Europas aussprach.
„Ich muss zum Papst. Und wenn es meine letzte Reise ist.“– Hinz&Künztler Robert
Diese Geschichte erzählt der Hamburger Pater Jan Roser inzwischen aus dem Effeff. In diesem Sommer klingelte bei ihm das Telefon. Ein Anruf aus Frankreich: Ob er zusammen mit 6000 Armen und Obdachlosen aus ganz Europa zum Papst reisen möchte. „Wollen Sie mich veräppeln?“, fragte Pater Roser den Anrufer von „Fratello“ Frankreich. „Ich habe dann gesagt: ‚Ich habe überhaupt keine Zeit, denn ich bin Geistlicher Rektor der Katholischen Akademie und Franzosenseelsorger‘“, zitiert sich Roser. „Aber das klingt so verrückt, ich will versuchen, in den nächsten Tagen alle Institutionen der Obdachlosenhilfe aus Hamburg an einen Tisch zu bekommen.“
Dass wir am Ende wirklich auf dem Petersplatz stehen würden, war da noch lange nicht klar. Es ist auch der Verdienst von Pia-Mareike Heyne, die Pater Roser als Erste mit ins Boot geholt hat. Mit der Hilfe der 25-jährigen Caritas-Mitarbeiterin kam im Juni das erste Treffen mit Vertretern zahlreicher Einrichtungen zustande.
Und alle wollten mitreisen. Aber es brauchte jemanden, der das Projekt leitet. Pater Roser ließ sich breitschlagen. So wie auch Pia, die „nicht schnell genug auf dem Baum war“, wie sie sagt. „Ab und zu braucht es eben Leute, die verrückte Dinge tun und tolle Ideen umsetzen.“ In ihrem Fall ehrenamtlich.
Es dauerte nicht lange, da war die Hamburger Reisegruppe zusammengestellt. Eine Einladung von Franziskus, das war eine Ehre. Egal, ob gläubig oder nicht. 67 Arme, Wohnungslose, frühere Obdachlose sagten zu. Dazu 41 Begleiter, darunter Ärzte, Pfleger und geistlicher Beistand. Zweimal trifft sich die ganze Gruppe im Herbst, bevor es nach Rom geht. Reisevorbereitungen – organisatorisch und spirituell. Wir wollen warm werden miteinander und mit dem Sinn unseres Projekts. Dabei müssen die Mitreisenden gar nicht gläubig sein, auch soll niemand bekehrt werden. Und tatsächlich haben manche ein sehr distanziertes Verhältnis zur Kirche. Dem Papst begegnen wollen sie trotzdem.
„Statt Liebe gab’s Hiebe. Reichlich.“
– Hinz&Künztler Chris
Bis vor fünf Jahren gehörte Joachim auch noch zu den Skeptikern. „Früher habe ich nie richtig an Gott geglaubt“, berichtet er. Das änderte sich, als er in Stuttgart auf der Straße bettelte. „Ein Christ kam und hat mit mir gebetet“, erzählt Joachim. Einfach so. „Er hat mein Leben Jesus übergeben.“ Seitdem hat sich im Leben des Obdachlosen einiges verändert: Jeden Sonntag besucht er einen Gottesdienst, außerdem trinkt er viel weniger Alkohol als früher. „Der Herr ist in mir“, sagt Joachim überzeugt und klopft sich mit der Hand auf die Brust. Er hat große Hoffnungen in die geplante Begegnung mit Franziskus gesetzt: Der Hinz&Künztler wünscht sich den Segen des Papstes. Und mit dieser Hilfe will er endlich eine Wohnung finden.
Kurz vor dem Abflug stehen sehr triviale Fragen zwischen Joachim und dem Papst. „Reicht eigentlich ein vorläufiger Personalausweis, um ins Flugzeug zu kommen?“, fragt er. Seinen richtigen hatte er verloren – und Joachim ist noch nie geflogen. Wir können ihn beruhigen: Der vorläufige reicht. Und so langsam wird uns allen klar: Wir fliegen wirklich alle zusammen nach Rom.
Am Morgen des 10. November treffen wir uns bei Hinz&Kunzt – doch einer fehlt. Ralf ist nicht da. Gruppenleiter Stephan wird nervös und überlegt schon, ihn von seinem Wohncontainer abzuholen, weil er wohl verschlafen hat. So vermutet er. Doch erst mal pilgern wir los zum Kleinen Michel. Dort will uns Hamburgs Erzbischof Stefan Heße den Reisesegen erteilen. Und wer wartet dort auf uns? Ralf! Seine S-Bahn hatte Verspätung. Puh! „Ich fühle mich ein bisschen wie auf Klassenfahrt“, sagt Stephan später in der Bahn auf dem Weg zum Flughafen. „Ich mache drei Kreuze, wenn alle im Flugzeug sitzen.“
Wir sind unterwegs zum Papst – und unsere Gespräche drehen sich mehr und mehr um Kirche und Glauben. Dabei wird klar, dass wir sehr verschiedene Beweggründe haben, zu pilgern. „Vielleicht kann ich dadurch Vorurteile abbauen“, sagt Chris, als die S1 aus dem Hauptbahnhof Richtung Flughafen rollt. Denn mit der Kirche hat der Hinz&Künztler schlechte Erfahrungen gemacht. „Ich bin in einem katholischen Heim aufgewachsen. Statt Liebe gab’s Hiebe“, berichtet er. „Regelmäßig. Reichlich.“ Gemeinsam mit dem Hinz&Kunzt-Team in den Vatikan zu reisen, findet er trotzdem schön. „Vielleicht nehme ich den lieben Gott doch noch mal in mein Herz auf.“

Als unser Flugzeug um 21.15 Uhr auf der Landebahn in Italien aufsetzt, rumpelt es ein bisschen. Aber sonst gibt es keine Probleme. „Der Flug war einwandfrei“, sagt der erleichterte Joachim am Gepäckband in Rom. „Ich hab’s mir schlimmer vorgestellt.“ Flugpremiere erfolgreich! Wir haben es geschafft, niemand ist verloren gegangen. „Das ist doch ein gutes Zeichen“, sagt Stephan. Langsam fällt sogar bei ihm die Anspannung ab. Noch eine gute Stunde Busfahrt zu unserer Unterkunft im Norden Roms, dann fallen wir müde in unsere Betten. Um sieben Uhr klingelt der Wecker – der Papst möchte uns zeitig sehen.
In der römischen Morgensonne gehen wir zum Vatikan. Hinz&Künztler Jan kommen schon beim Anblick der Säulen am Petersplatz die Tränen: „Überwältigend, wirklich“, sagt er. Wir alle staunen und reihen uns ein in die Gruppe von Tausenden Pilgern, die heute Papst Franziskus zuhören wollen.
Reiner ist vor allem nervös – schließlich gehört er zu den Wohnungslosen, die ihm gleich direkt gegenübertreten werden. Immer wieder hebt er seine Hand, um zu zeigen, dass sie zittert. In der langen Schlange vor den Sicherheitskontrollen überlegt er noch einmal, was er Franziskus unbedingt alles sagen will: Dass im reichen Hamburg so viele Menschen keine Wohnung haben. „Vielleicht kann er was dazu beitragen, dass nicht mehr so viele Obdachlose auf der Straße schlafen müssen“, sagt Reiner.
Außerdem soll er Franziskus Grüße vom Hamburger Erzbischof ausrichten. Er lässt sich alles aufschreiben, damit er es vor Aufregung nicht vergisst. Dann gehen wir zusammen mit Tausenden anderer in den gigantischen „Saal Paul VI“. Während unsere Gruppe in den hinteren Reihen Platz nimmt, darf Reiner ganz nach vorne.
Und dann kommt der Papst. Von lautem Jubel und Applaus begleitet läuft er einmal durch den ganzen Saal und schüttelt dabei viele Hände. Gespannt schalten wir unsere Übersetzungsgeräte ein – und verstehen doch kaum etwas. Das Problem: Franziskus hatte angekündigt, seine Ansprache auf Italienisch zu halten. Er spricht dann doch auf Spanisch – und überfordert so die Simultanübersetzer.
Trotzdem verfolgen wir das Geschehen gebannt, und vielen kommen dabei vor Rührung die Tränen. „Du guckst hin und fühlst mit, wie bewegend das alles für die Menschen ist“, sagt Hinz&Künztler Jörg. „Ganz so, als wäre man selbst vorne mit dabei.“
„Er hat meine Hände genommen und gesagt: ,Bete, bete!‘“
– Hinz&Künztler Reiner
Später erfahren wir, was Franziskus gesagt hat: „Ich bitte Sie um Verzeihung für all die Male, in denen wir Christen angesichts eines armen Menschen wegsehen. Verzeihung!“ Wow! Franziskus geht auf Tuchfühlung mit den vielen Armen im Saal. Er segnet nicht nur alle Anwesenden, er spricht auch kurz mit allen, die in den ersten Reihen sitzen.
Auch Reiner ist dabei. Über die große Leinwand neben der Bühne sehen wir, wie der Papst ihn anlächelt und ihm die Hände schüttelt. „Er hat meine Hände genommen und gesagt: ,Bete, bete!‘“, erzählt Reiner später. „Und ich sage: ‚Mach ich!‘“
Als der Papst dann mitten durch sein Publikum den Saal verlässt, versucht auch Joachim sein Glück. Doch so weit er seine Hand auch ausstreckt – ganz kommt er nicht an Franziskus heran, ein paar Zentimeter fehlen. Joachim strahlt trotzdem bis über beide Ohren. „Ich war nah genug dran“, sagt er. „Wahnsinn! Geil!“ Er weiß gar nicht, wohin mit seinen Emotionen, klatscht in die Hände und ruft: „Halleluja!“
Auch Robert hat es bis auf zwei Meter an Franziskus herangeschafft, genug für ihn. „Ich bin so froh!“, sagt er. Und denkt sogleich an alle Mitreisenden: „Schau dir die Menschen an! Die lachen alle! Alle sind fröhlich! Keiner geht gebückt!“
Die Begegnung mit dem Papst beschäftigt alle noch tagelang. Sogar unser Vertriebsmitarbeiter Sigi, sonst nicht für Gefühlsausbrüche bekannt, packt beim Frühstück aus. „Das ging mir durch Mark und Bein“, erzählt er. Und weiter: „Ich habe immer gedacht, dass mir die Heimleitung alle Tränen aus dem Leib geprügelt hat.“ Starker Tobak morgens um sieben Uhr. Sigi war als Kind in einem kirchlichen Heim und wurde dort geschlagen. Freiwillig ist der 60-Jährige seitdem nur zu Beerdigungen in Kirchen gewesen. Doch den Papst zu sehen bringt sogar ihn ins Grübeln. Wann er das nächste Mal in einen Gottesdienst gehen wird? „Das kann ich dir nicht sagen“, sagt er nach kurzem Nachdenken. Vor der Reise hätte er wohl gesagt: nie wieder.
Am Samstagnachmittag feiert der Kölner Weihbischof Ansgar Puff eine Messe mit allen deutschsprachigen Teilnehmern des „Fratello“-Festes. Er fordert die Obdachlosen auf, immer weiter am Ball zu bleiben, hartnäckig zu sein und sich wieder und wieder für die eigenen Belange einzusetzen. „Auch, wenn das manchmal nervt!“, sagt Puff. Damit hinterlässt er bei Ralf bleibenden Eindruck: „Diese Worte haben mir Mut gemacht“, sagt er später. „Die haben mir einen Kick gegeben. Ich werde jetzt dranbleiben und Kontakt haben zu meinen Kindern.“ Bis zu seinem Geburtstag im September hatte er sie jahrelang nicht gesehen.
Als sich seine Frau vor zweieinhalb Jahren von ihm trennte, tat das so weh, dass er „alles stehen und liegen ließ“. Sogar seine Kinder ließ er im Stich. Er kam von Schleswig-Holstein nach Hamburg und machte hier Platte. „Und dann standen meine Ex-Frau und meine beiden Kinder plötzlich an meinem Geburtstag an meinem Verkaufsplatz und haben mir gratuliert“, sagt der Hinz&Künztler. Das ging Ralf unter die Haut. Nun will er den Kontakt halten und dafür kämpfen, ganz so wie der Weihbischof es empfohlen hat. Seine Kinder machen ihm das übrigens schon vor: Sie hatten die Mutter überredet, Ralf auf Hamburgs Straßen zu suchen, und sie haben auch durchgesetzt, dass er Weihnachten mit ihnen zu Hause verbringen darf.
„Ich habe geweint wie ein kleines Kind.“
– Hinz&Künztler Robert
Fast alle Reiseteilnehmer erleben in Rom ihr ganz persönliches Highlight. Robert erwischt es am Samstagabend in der Kirche St. Paul vor den Mauern, einer der päpstlichen Basiliken. „Ich habe geweint wie ein kleines Kind. Ich konnte einfach nichts dagegen tun“, erzählt er. Immer schon hat er an Gott geglaubt, aber erst hier beim Entzünden einer Kerze hatte er das Gefühl, wirklich bei Gott angekommen zu sein und mit seinem Leben ins Reine zu kommen. „Mein Herz wurde ganz frei“, sagt Robert.
So frei, dass er vor Gott einen Schwur ablegte: „Niemals wieder nehme ich einen Schluck Alkohol in den Mund.“ Schon so oft habe er gesagt, er würde mit dem Trinken aufhören. Gegenüber seiner Frau und seinen beiden Kindern, gegenüber sich selbst. Nie habe er es geschafft. Dieses Mal ist er sich „1000-prozentig“ sicher. „Gott hat noch was mit mir vor. Er gibt mir noch eine Chance.“
Zum Abschluss unserer Reise folgen wir einer zweiten Einladung von Papst Franziskus, dieses Mal in den gigantischen Petersdom. Dort feiert er mit uns und Tausenden anderer eine Heilige Messe. Wieder können wir kaum etwas verstehen – und wieder fließen bei so manchem Tränen. „Diesen Papst zu erleben, ist eben auch etwas sehr Besonderes“, sagt Pater Karl Meyer aus Hamburg, der mit uns gereist ist. „Seine persönliche Zuwendung hat den Menschen gutgetan.“ Und dem 79-jährigen Dominikaner hat es gutgetan, das mitzuerleben: „Wie gut, wie gut, dass ich mitgefahren bin!“

Dann stehen wir auf dem Petersplatz und blicken zurück auf eine unglaubliche Reise. „Das hat uns allen was gebracht“, sagt der Kirchenskeptiker Chris. „Wir sind so gut zusammengewachsen, dass ich sagen möchte: Wir sind eine Familie“, freut sich Hinz&Künztler Jörg. Und auch die Organisatoren sind zufrieden: „Es war eine Ehre für mich, mit diesen Menschen unterwegs zu sein“, sagt Pater Jan Roser. Man sei sich auf Augenhöhe begegnet, mit einem großen gegenseitigen Respekt. Pia Heyne bestätigt: „Die Reise hat unsere kühnsten Erwartungen übertroffen.“
Nun soll die Pilgerfahrt auch langfristig Früchte tragen, das wünschen wir uns alle. Hoffentlich bleibt Robert trocken. Hoffentlich schafft Ralf es, den Kontakt zu seinen Kindern zu halten. Hoffentlich hören die Politiker Reiners Wunsch nach mehr Unterkünften für Obdachlose. Joachims Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen: Ein Vermieter hat ihn im NDR-Fernsehen gesehen und direkt bei Hinz&Kunzt angerufen. Nach 30 Jahren auf der Straße hat Joachim endlich eine eigene Wohnung gefunden. Papst sei Dank.