Wilhelmsburg : Orte, die bleiben

IBA und Gartenschau in Wilhelmsburg sind vorbei. Doch die Kids des Stadtteils können noch lange von vielen Projekten profitieren: Auf der Elbinsel sind zahlreiche außerschulische Lernorte entstanden.

(aus Hinz&Kunzt 258/August 2014)

Trostlos, verarmt, kriminell: Diese Beschreibung fällt vielen ein, wenn sie an die Elbinsel Wilhelmsburg denken. Früher noch mehr als heute. Aber schon in den 80er-Jahren stimmte das gar nicht, sagt Marvin Willoughby: „Die Insel ist wunderschön!“ Er muss es wissen, denn der heute 35-Jährige ist hier aufgewachsen. „Wir haben hier ein supergeiles Leben gehabt!“ Die Vorurteile, die an dem Stadtteil hafteten, hat er trotzdem zu spüren bekommen. „Ich weiß, was es heißt, nach Hamburg reinzukommen und zu erzählen, dass man aus Wilhelmsburg kommt“, sagt er. Oft habe er sich abfällige Kommentare anhören müssen. „Mein Selbstwertgefühl hat als Jugendlicher hart gelitten.“

Heute ist Willoughby selbstbewusst. Kann er auch sein: Gerade steht er in einer riesigen Baustelle mitten in Wilhelmsburg. Am anderen Ende der Halle tragen Bauarbeiter in abgewetzter Zimmermannskleidung Metallgitter an ihren Bestimmungsort. Willoughby selbst trägt eine dunkelblaue Trainingsjacke, Jeans und schwarze Turnschuhe. In den Händen hält er keine Baumaterialien, sondern einen Basketball, den er fürs Fotoshooting mitgebracht hat. Das hier ist seine Baustelle. Der frühere Junge aus Wilhelmsburg lässt heute unweit vom S-Bahnhof seinen Traum bauen: Wenn die Sporthalle fertig ist, sollen auf den Zuschauerrängen 3500 Menschen Platz finden. Auf dem Spielfeld werden im Herbst Profibasketballer auflaufen, die „Hamburg Towers“. Willoughbys ehrgeiziger Plan ist, dass die Hamburger dann über Wilhelmsburg als den Stadtteil reden, in dem es eine Basketball-Bundesligamannschaft gibt.

Ohne die Internationale Gartenschau IGS wäre es nie so weit gekommen, glaubt er. Denn die Halle, die Willoughby gerade umbauen lässt, diente im vergangenen Jahr noch als Ausstellungsfläche für die IGS. Das Geld für den Umbau kommt von der Stadt, einer Stiftung, der IGS und der Internationalen Bauausstellung IBA. Mit dem Konzept, das er mit seinem Verein „Sport ohne Grenzen“ erarbeitet hat, konnte Marvin Willoughby die Geldgeber überzeugen. Denn die neue Sporthalle soll vor allem den Kindern und Jugendlichen in Wilhelmsburg zugutekommen.

Willoughby will ihnen dabei die Möglichkeit bieten, den Vorbildern aus der ­Profimannschaft nachzueifern und ­womöglich selbst einmal professioneller Basketballspieler zu werden. So wie er selbst auch mal als Basketballer in der 1. Bundesliga sein Geld verdient hat, bis er wegen einer Verletzung aufhören musste.

Die Halle will er auch grundsätzlich für die Kids aus dem Stadtteil öffnen: „Sport ist in Wilhelmsburg noch wichtiger als anderswo, aber es gibt nicht genügend Hallen“, sagt Willoughby. Deswegen soll die neue Sporthalle auch ein Ort zum Lernen werden. „Die Schulen im Stadtteil wollen und brauchen Unterstützung.“ Normaler Sportunterricht und Projektwochen der Wilhelmsburger Schulen will er ab Herbst auch dort anbieten, wo sonst die Profis spielen. „Die Schüler sollen Kontakt zu den Profisportlern haben“, sagt er. Und sie sollen auch etwas fürs Leben lernen.

Mit Jugendarbeit hat Willoughby bereits vielseitige Erfahrungen gesammelt. Seit Jahren reist er mit Trainern, Sozialarbeitern und Sportwissenschaftlern durch Hamburg und gibt eigens entwickelte Unterrichtsstunden. Dabei geht es ihm um viel mehr als nur um Sport. Das Konzept hinter „Learn for Life“: Die Schüler sollen sich über den Basketball soziale Kompetenzen aneignen. „Schon ein Doppelpass ist eine soziale Interaktion“, sagt Willoughby. „Ich brauche einen Mitspieler und muss auf den Rücksicht nehmen. Das ist der erste Schritt zu der Frage, wie wir leben wollen.“ ­In den Unterrichtsstunden geht es um Teamfähigkeit, Sprachförderung oder Gewaltprävention. Das alles soll dann auch in der neuen Sporthalle stattfinden.

Die Halle ist kein Einzelfall: An vielen Stellen in Wilhelmsburg sind im Zuge der Bau- und Gartenausstellungen Orte entstanden, an denen die Schüler außerhalb ihrer Schulen lernen können. „Bildungsoffensive Elbinseln“ hieß das zugehörige IBA-Projekt. Geplant waren „Orte der Begegnung mit inhaltlichen Profilen“. Die Ausstellungen sind inzwischen vorbei, aber die Lernorte bleiben Wilhelmsburg und seinen Kindern erhalten. Für viele ist das ein echter Gewinn.

Das ist auch deswegen beachtlich, weil Bau- und Gartenausstellung viel Kritik einstecken mussten. Sie würden für Mietsteigerungen sorgen und so letztlich die armen Bewohner von der Elbinsel vertreiben, war die große Befürchtung. „Sicherlich sind ein paar Probleme entstanden“, sagt Basketballer Willoughby. „Aber wir versuchen, das Beste daraus zu machen.“ Von der Sporthalle, hofft er, wird der Wilhelmsburger Nachwuchs nachhaltig profitieren.

Beatrix Nimphy sieht das ähnlich. Sie sitzt einen Kilometer weiter östlich in ihrem Büro im „Media Dock“, einem kantigen Gebäude mit Holzvertäfelung, das sich hinter dicht gewachsenen Bäumen versteckt. „Man kann viel auf IBA und IGS schimpfen“, sagt sie. „Aber ohne sie hätten wir diese ganzen Lernorte nicht.“ Nimphy leitet das Media Dock, ein Medienzentrum, das von Schülern verschiedener Wilhelmsburger Schulen genutzt wird.

Im Souterrain sitzen 15 Schüler einer zweiten Klasse der Grundschule Kirchdorf vor ihren Laptops. Manche tippen ihren Namen und einfache Sätze ein, andere malen mit einem Grafikprogramm bunte Linien auf die Bildschirme. Wieder andere schauen sich Videos bei YouTube an. Julian Kremhart hat alle Mühe, die Bande im Zaum zu halten. Der 26-jährige Erzieher muss die Kids häufig ermahnen, nicht so laut herumzuschreien. Seine eigentliche Aufgabe: mit den Zweitklässlern einen Computerführerschein machen. Dafür müssen die Kinder die wichtigsten Programme kennenlernen, sagt Kremhart: „Dann können sie den anderen in der Schule zeigen, wie es geht.“

Ohne das Media Dock wäre dieses Nachmittagsangebot der Ganztagsschule kaum möglich. „Dann hätte ich nur einen PC im Raum. Das wäre schrecklich“, sagt Kremhart. Doch IBA sei Dank haben die Schülerinnen und Schüler aus dem Stadtteil einen Ort, an dem sie Medienkompetenz erwerben können. Neben dem Computerraum haben die Macher der Bauausstellung hier zwei Musikzimmer mit angeschlossenem Tonstudio und einen Spiegelsaal für den Tanzunterricht gebaut. Auch Videofilmen können die Kids im Media Dock lernen. Alles Dinge, die es in der Schule so nicht gibt. „Es ist eine Attraktion für die Kinder, weil sie nicht jeden Tag hier sind“, sagt Erzieher Kremhart.

Darum geht es bei den außerschulischen Lernorten: Sie sind eben nicht in der Schule, die bei vielen Kindern doch eher unbeliebt ist. Ganz bewusst soll es hier anders laufen: „Ich habe auch diesen widerlichen Gong entfernt“, sagt Beatrix Nimphy. Pause ist, wenn die Motivation nachlässt. Das Konzept scheint aufzugehen: „Wenn ich sehe, mit welchem Strahlen die Kids hier rausgehen“, sagt Nimphy, „ist das für mich ein Erfolgserlebnis.“

Für Jürgen Hensen ist es schon ein Erfolg, mit seiner Zigarette am Müggenburger Kanal stehen zu können. Hier, vor seinem Baby, der „Mügge“. Zufrieden blickt er über das gemächlich vorbeifließende Elbwasser auf die Veddel hinüber. Nur ab und zu fährt mal ein Schiff vorbei, bringt das Wasser in Wallung. Die Mügge, das ist das Haus der Projekte, das Hensen in den letzten Jahren mit viel Liebe und Mühe hochgezogen hat. Inzwischen leitet er es.

Drinnen, in der Werkhalle der Mügge, ist es laut und hektisch. Drei Jugendliche der Stadtteilschule Wilhelmsburg werkeln an einem Schiffsrumpf, schleifen akribisch die Planken ab. Wenn sie damit fertig sind, werden sie ihre eigene Jolle gebaut haben. In der anderen Ecke der Halle schrauben einige Schüler an unscheinbaren Metallteilen herum. Irgendwann wird das mal ein Trecker sein. Ein echter Porsche. Insgesamt 20 Schüler haben sich für das Profil „Lernen am Wasser“ entschieden. Drei Jahre lang, in der achten, neunten und zehnten Klasse, kommen sie ein Mal in der Woche in das Haus der Projekte. Direkt am Hafen können sie ganz praktisch lernen, fernab vom Schulalltag. „Vorher hatten die Kinder und Jugendlichen auf der Veddel gar keinen Zugang zum Wasser“, sagt Jürgen Hensen.

Die Jugendlichen, die hierherkommen, haben oft keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Hensen sagt, häufig würden sie mit einem schlechten Hauptschulabschluss ins Leben entlassen, der für ihre Berufswünsche eigentlich nicht ausreiche. Die Zeit im Haus der Projekte soll ihnen helfen, ihre Träume trotzdem zu erfüllen: „Die Jugendlichen müssen an der Arbeit beteiligt werden. Das hilft ihnen, zu einer besseren Ausbildungsreife zu gelangen.“ Schon beim Innenausbau haben Schüler mitgeholfen, haben dafür eigens Lehrgänge besucht. Learning by Doing wird hier großgeschrieben. „Flankierende Bildungshilfestellungen“ nennt Hensen das.

Die Idee für das Haus der Projekte hatte er schon lange. Früher war er mal Leiter des „Haus der Jugend“ auf der Veddel. Dort hat er schnell gemerkt: „Jugendarbeit und ein bisschen Billard reichen nicht aus.“ Schon seit 2005 bringt er Schülern am gegenüberliegenden Ufer kostenlos Segeln bei. „Es ist toll, so eine elitäre Sportart den migrantischen Kids beizubringen“, sagt er begeistert. „Das ist indirekte Integrationsarbeit.“ Irgendwann reichte ihm auch das nicht mehr: Mit einer eigenen Werft wollte er die Jugendlichen auf ihrem Bildungsweg unterstützen.

Am schwierigsten war es für Hensen, das nötige Geld für seine Vision einzusammeln. Insgesamt 1,5 Millionen Euro hat das Projekthaus gekostet. ­Bezahlt haben es die Stadt, der Bezirk Mitte, private Sponsoren – und die IBA, sagt Hensen. Er schaut noch mal auf den Kanal, auf die Backsteinbauten der Veddel. Ohne die Bauausstellung im Rücken hätte das alles nicht geklappt, ist er sich sicher: „Die IBA war mein Lottogewinn!“

Bildergalerie: Orte, die bleiben


  • Lernen einmal praktisch: Statt in der Schule zu sitzen , arbeiten diese Jugendlichen in der Lehrwerft „Mügge“.

  • Jürgen Hensen gründete mit viel Elan eine Lehrwerft. Schließlich wohnen die Jugendlichen aus Wilhelmsburg und auf der Veddel direkt am Wasser

  • Marvin Willoughby ist selbst ein Wilhelmsburger Jung. Lange spielte er als Profi-Basketballer – und will nun sein Wissen und Können weitergeben.

  • Geplant ist eine Sporthalle für 3500 Zuschauer.

  • Beatrix Nimphy leitet das Media Dock, das die Wilhelmsburger Schüler fit für das Internetzeitalter machen soll.

Text: Benjamin Laufer
Fotos: Dmitrij Leltschuk