Zwei Hinz&Kunzt-Verkäufer wirken mit an einem der größten Opernprojekte des Jahres – über den Heiligen Franziskus, der die Armut pries und die Gesellschaft herausforderte.
„Kamera läuft, und – bitte.“ Jan (78) und Salvatore (49) schlendern los, auf den Duschbus Go Banyo zu, der am Rathaus Altona geparkt ist. Dominik Bloh, Initiator des mobilen Hilfsprojekts, begrüßt die beiden Hinz&Kunzt-Verkäufer, Salvatore checkt ein und verschwindet mit Handtuch und Duschzeug im Bus. Jan und Dominik unterhalten sich, dann ruft jemand aus dem Off: „Jan, sag mal den Satz.“
Jan dreht sich um, öffnet die Hände, holt Luft und rezitiert lautlos: „Voilàààààà …“ Vor ihm stehen zwei Kameraleute im Auftrag der Hamburgischen Staatsoper, die Produktionsleiterin, die Opernmusik aus ihrem Handy abspielt, und Georges Delnon, Intendant und Regisseur des Filmprojekts.
Delnon rührt in der Luft, ein Zeichen für Jan: Länger, noch länger die Vokale! „Voilà la joie, la joie parfaite.“ Der Satz stammt aus der Titelpartie der Oper „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen. Der Heilige Franziskus besingt darin das „vollendete Glück“ demütigen Leidens – und nun soll ihn Hinz&Künztler Jan so darbieten, dass es bei der gleichzeitigen Aufführung von Oper und Film so wirkt, als kämen die Worte aus seinem Mund. Jan ist ausgebildeter Schauspieler und stand früher häufig auf Bühnen. Drei Anläufe braucht er, bis der Satz im Kasten ist. „Hätte er mir den Text doch vor Wochen schon gegeben“, sagt Jan hinterher. „Dann hätte ich geübt!“
Üben ist aber nicht vorgesehen in Delnons Filmdreh. Dabei ist „Saint François d’Assise“ eine große Nummer im Hamburger Kulturkalender. Als Höhepunkt des Internationalen Musikfests und Finale der Opernsaison soll das fünfstündige Meisterwerk über den Heiligen Franziskus von Assisi in der Elbphilharmonie erklingen. Mehr als 250 Künstler:innen sind beteiligt, Dirigent Kent Nagano verantwortet den musikalischen Part: das Zusammenspiel von Musiker:innen des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg, von HamburgMusik und dem Ensemble der Staatsoper. Während im Orchestergraben und auf der Bühne höchste Professionalität und Perfektion gefragt sind, setzt Delnon als Regisseur auf die Authentizität des Alltäglichen.
Keine Maske also, keine Proben und vor allem kein Skript für Jan, Salvatore und die übrigen Protagonist:innen, die Delnon für seine Inszenierung vor die Kamera gebeten hat. Acht Filme sind es, die in der Elbphilharmonie über eine ringförmige Leinwand laufen sollen. Sie zeigen Menschen, die heute vorleben, was Franziskus seinerzeit predigte: Mönche im heutigen Assisi, eine Aktivistin der Seenotrettungsorganisation Sea Watch, es geht auch um Kunst und Klimakrise – und um Armut. „Armut ist sehr präsent bei Franziskus. Er setzt sie sogar voraus: Um die Einsicht in die Menschheit zu erlangen, müsse man sich trennen vom Materiellen“, erklärt Delnon. „Das ist sicher ein Aspekt bei Franziskus, der uns heute sehr schwerfällt.“
Wie aber fühlt sich dieses Lob der Askese an für jemanden, der ungewollt arm ist? In Messiaens Oper preist Franziskus die Erfahrung, ausgehungert und schutzlos an eine Tür zu klopfen und immer wieder abgewiesen, am Ende sogar verprügelt zu werden, als höchste Erfüllung. Kann Jan sich damit identifizieren?
Die Frage macht ihm zu schaffen. „Ich habe es mir nicht ausgesucht, arm zu sein“, sagt er. Was ihn einst Halt und Heim kostete, war, wie bei vielen, eine Mischung aus Trauma, Einsamkeit und innerer Flucht. Noch immer fühlt sich Jan als einer, der etwas außerhalb der Gesellschaft steht. Das sei kein schönes Gefühl. Bei all dem auf einen Gott zu vertrauen und zu glauben, dass Not und Armut einem höheren Ziel dienten, falle ihm schwer.
Sein Freund Salvatore kann dem Credo des Heiligen Franziskus, der seinem reichen Elternhaus den Rücken kehrte und sich den Armen zuwandte, schon eher etwas abgewinnen. „Meine Familie war auch reich“, sagt er. „Ich bin aufgewachsen wie der kleine Lord.“ Er sei streng und sehr katholisch erzogen worden. „Ich habe es gehasst“, sagt Salvatore. Als Jugendlicher schon brach er aus dem goldenen Käfig aus, verwechselte Rausch mit Freiheit, fand Anschluss in Hamburger Punkerkreisen und verabschiedete sich von Kirche und Kapitalismus. An Gott aber glaube er noch immer, sagt Salvatore. Und Franziskus? „Ein Revolutionär, ein Superheld!“
Auch Georges Delnon interessiert sich mehr für den politischen Appell des Bettelmönchs als für den Heiligenkult um ihn. „Vielleicht hatte François etwas Aktivistischeres, als man heute wahrhaben will“, sagt er. Den „franziskanischen Geist“ jedenfalls habe er eher bei Aktivist:innen auf der Straße oder auf See gefunden als dort, wo der Heilige ihm besonders oft begegnete: in den Schaufenstern der Souvenirshops von Assisi.