Grimme-Preisträger Michael Richter drehte einen Film über Jungs in einem geschlossenen Heim. In Hinz&Kunzt berichtet er von seinen Erfahrungen vor Ort
(aus Hinz&Kunzt 175/September 2007)
Oleg daddelt am Tischkicker. Es ist Sonntagnachmittag und die Langeweile ist mit Händen zu greifen. Seine Pupillen verraten mir, dass er irgendwie wieder an Drogen gekommen sein muss. Gras oder Pillen, wahrscheinlich. Dabei herrscht im Martinistift strenges Drogenverbot. Oleg ist erst 13, aber er hat schon viele Jahre in Heimen verbracht. Erst in Sibirien, der Heimat seiner Eltern, später in Deutschland. Seine Großmutter hat ihn mit sechs Jahren nach Deutschland geholt, zusammen mit seiner Schwester. In die Schule ist er kaum gegangen, mit neun hat er angefangen, Drogen zu nehmen. Er war immer mit Älteren zusammen, da war das normal.
Seit sechs Wochen drehen wir für den NDR im Martinistift, 20 Kilometer von Münster entfernt auf dem platten Land gelegen. Dort ist eine der größten geschlossenen Unterbringungen Deutschlands, mit 40 Betten. Wir wollen den Alltag in einer geschlossenen Unterbringung porträtieren, jener letzten Chance, die der Staat Jugendlichen bietet. Falls sie hier scheitern, müssen sie den Gang ins Jugendgefängnis antreten. Ist diese härteste Form der Heimerziehung heute noch zeitgemäß – erreicht man die Jugendlichen mit diesem Angebot?
Gruppe 1: Jeder der zehn Jungs hat schon eine lange kriminelle Karriere hinter sich. Diebstahl, Raub, Mopeds klauen, Autos
aufbrechen. Körperverletzung, Messerstechereien – das sind die klassischen Delikte, von denen die 12- bis 17-Jährigen schon eine ganze Menge angehäuft haben. Die Hälfte von ihnen wurde vom Jugendrichter vor die Wahl gestellt, entweder in die geschlossene Unterbringung oder in den Knast zu gehen, die andere Hälfte lebt sowieso in „normalen“ Heimen.
Die Schlüssel zur Außentür haben nur die Erzieher. Die Fenster sind aus Panzerglas, die Türen aus Stahl. Wer neu in die Gruppe kommt, hat erst mal zwei Wochen Ausgangssperre. Nach dieser Zeit darf er mal den Müll runterbringen oder das Mittagessen in der Küche auf dem Stiftsgelände in Begleitung eines Erziehers holen gehen. Je nach Verhalten des Jugendlichen erweitert sich sein Aktionsradius. Er beginnt eine Ausbildung auf dem Gelände, kommt dann zum Mittagessen auf die Gruppe und erhält nachmittags oder abends nach der Arbeit für ein oder zwei Stunden Ausgang.
Schlechter haben es die ganz Jungen, die noch keine 14 sind und in der Gruppe Schulunterricht bekommen. Die verbringen den Tag bis auf ein oder zwei Stunden auf der Gruppe. Wenn die Jugendlichen die Regeln einhalten, dürfen sie alle vier Wochen für ein Wochenende nach Hause.
Oleg war schon seit sechs Wochen nicht mehr draußen auf dem Gelände. Weil er immer wieder abhaut. Beim Essen-Holen, auf dem Weg zum Sportplatz. Fünf Minuten ohne Aufsicht reichen, schon nutzt er die Chance und schlägt sich, meist mit einem Kumpel aus der Gruppe, bis zum Bahnhof durch, der fünf Kilometer vom Stift entfernt ist. Den Bahnschaffnern erzählen sie irgendwelche Märchengeschichten, sodass sie bis nach Münster kommen. Dann ein Taxi und ab nach Hause zu Oma. Die zahlt schon. Und dann eine Woche Sause, mit viel Wodka, Gras und vielleicht einem Mädchen, das gerade bei den Freunden rumhängt.
Schließlich wird Oleg wieder von der Polizei eingefangen und ins Martinistift gebracht. Schreien und Toben bei der Einlieferung, stundenlanger Einschluss im Zimmer, wochenlanger Einschluss auf der Gruppe. Bis Oleg die Spielregeln der Gruppe scheinbar wieder mitspielt und brav zum Schulunterricht geht oder behauptet, jetzt „endgültig“ eingesehen zu haben, dass er sein Verhalten ändern muss. Immer das gleiche Spiel. Seit einem Jahr. Oleg ist die härteste Nuss, die die Erzieher im Martinistift jemals zu knacken hatten. „So einen wie Oleg hatten wir noch nie. Man kommt überhaupt nicht an ihn ran“, stöhnt Erzieher Martin Hagedorn, der seit 24 Jahren im Martinistift arbeitet und immer noch an seine Arbeit glaubt. Obwohl er schätzt, dass die Erfolgsquote bei den Jugendlichen lediglich zwischen zehn und dreißig Prozent liegt.
Die Bemühungen der Erzieher, den Jugendlichen einen festen Rahmen zu geben und noch einmal eine Perspektive zu eröffnen, nachdem sie schon so oft in ihrem Leben gescheitert sind, sind im Heimalltag spürbar. Aber sie stoßen schnell an Grenzen. Viele der Jugendlichen kommen aus Elternhäusern, in denen Gewalt und Drogen zum Alltag gehören. Sie kennen keinen geregelten Tagesablauf, gemeinsame Mahlzeiten sind ihnen unbekannt. Als ich Oleg einmal frage, was er am meisten vermisst, zögert er lange und presst dann heraus: „Meinen Fernseher.“
„Was 13 Jahre lang schiefgelaufen ist, können wir nicht in einem Jahr geradebiegen“, meint Erzieher Martin Hagedorn lakonisch. Hagedorn bedauert, dass die Jugendlichen so spät zu ihnen kommen, mitten in der Pubertät. In diesem einen Jahr geschlossener Unterbringung, sagt er, könne man Entwicklungen gerade mal anstoßen. Einen Jugendlichen wie Oleg „umzudrehen“ und so zu festigen, dass er draußen stabil bleibe, sei in dieser Zeit unmöglich. „Bei Oleg ist unsere Befürchtung sehr groß, dass er in einen Kreislauf gerät, in dem er zeitweise im Knast landet, dann wieder ein paar Monate draußen ist, um dann wieder eine Straftat zu begehen.“
Letztlich kommen die Erzieher nicht an Oleg heran – genauso wie an viele andere Jugendliche der Gruppe 1. Über die Monate unserer Beobachtung habe ich immer stärker das Gefühl, dass die Erziehungsversuche an den Jugendlichen weitgehend abprallen. Für die meisten Jugendlichen ist die geschlossene Unterbringung mehr Strafe als Chance. Sie sind unglücklich, so weit von zu Hause fort zu sein und zählen die Tage, bis sie wieder weg können – wie im Gefängnis. Dass ihre Eltern sich vielleicht nicht für sie interessieren, dass sie mit ihren Freunden schnell wieder in ihre kriminellen Muster zurückfallen, dass sie mit ihrem Lebenslauf keine Chance auf eine Ausbildung haben, blenden sie aus.
Oleg hasst die Gruppe 1, er hasst die Erzieher und ist genervt von den anderen Jungs. Er will nur weg und mit seinen Kumpels rumhängen. Interesse für die Welt um ihn herum, Spaß an etwas anderem als Drogen – das ist ihm nach wie vor fremd. Nach 15 Monaten geben die Erzieher auf. Oleg darf zurück zu seiner Großmutter. Als ich drei Monate später bei ihm anrufe, ist er gerade wieder von der Schule geflogen.
Die „geschlossene Unterbringung“ ist als sogenannte „freiheitsentziehende Maßnahme“ die strengste Form der Heimerziehung. Als Alternative zum Jugendgefängnis oder wenn Erzieher Jugendliche in anderen Heimen nicht mehr halten können, bieten Einrichtungen bundesweit etwa 200 Plätze für Jungs und Mädchen an, die meist zwischen 13 und 17 Jahre alt sind. Das Martinistift gehört mit 40 Plätzen zu den größten Einrichtungen dieser Art. Auch das Heim in der Hamburger Feuerbergstraße stellt sechs Plätze zur Verfügung. Die Jugendlichen unterliegen in der geschlossenen Unterbringung einer strengen täglichen Kontrolle der Erzieher. Sanktionen können bis zu einem mehrwöchigen Einschluss führen. In der Regel müssen sich die Jugendlichen etwa ein Jahr in der geschlossenen Unterbringung aufhalten. Die Kosten belaufen sich auf etwa 250 Euro pro Tag und Platz. Der Erfolg der geschlossenen Unterbringung ist umstritten, es ist die Rede von Rückfallquoten von 70 bis 90 Prozent. Galt diese rigide Form der Erziehung viele Jahre als Auslaufmodell, besteht in letzter Zeit trotzdem wieder verstärkt Interesse – nicht zuletzt angesichts einer zunehmenden Anzahl verwahrlosender, gewalttätiger Jugendlicher.