Schlafen auf der Straße

Mit einem Auge wach

„Ich habe viele beschissene Dinge auf der Straße erlebt“, sagt Annie. Da sei es schwer, abzuschalten. Foto: Mauricio Bustamante

Siebeneinhalb Stunden Schlaf brauchen Menschen im Schnitt. Wie wenig bekommt man draußen auf Platte? Drei Obdachlose haben drei Nächte lang Schlaftracker getragen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Sven legt eine große Pappe auf den Asphalt. Seine Freundin Esra breitet darüber eine Plane aus. Die dritte Schicht bilden zwei Isomatten. Über sie kommen dünne Decken, dann die Schlafsäcke. Als letztes drapiert Sven zwei Kissen am Kopfende.  

Der Aufbau ihres Schlafplatzes dauert nicht länger als fünf Minuten. Er verläuft wortlos, routiniert. Seit zwei Jahren machen sie zusammen Platte. In Jeans, Kapuzenpullis und Winterjacken kriechen sie in ihre Schlafsäcke. „Schatz, du pennst auf der Straße. Setz deine Mütze auf!“ Esra knufft ihren Freund in die Seite. Der grinst und gehorcht.  

Ihr Lager unter einem Vordach in der Innenstadt wird permanent von Lampen beleuchtet. Um einschlafen zu können, zieht Sven den Schlafsack bis übers Gesicht. Esra zeigt auf eine fette Ratte, die ein paar Meter entfernt über den Bürgersteig läuft. „Die Viecher sind überall. Macht’s Einpennen nicht leichter“, sagt die 42-Jährige. 

Um zumindest etwas Schlaf zu bekommen, bevor der Lärm der umliegenden Baustellen und Straßen wieder einsetzt, liegen die beiden bereits um kurz vor neun in ihren Schlafsäcken. Wie wenig sie nachts schlafen, können sie nicht einschätzen. Nur eines wissen sie sicher: „Viel ist das nie.“ Um es herauszufinden, willigen sie ein, drei Nächte lang Uhren zu tragen, die ihre Schlafdauer aufzeichnen. 

Der Tracker misst auch die Außentemperatur: Acht Grad zeigt das Display an Svens Handgelenk an diesem Märzabend. „Na immerhin. Die letzten Nächte waren kalt.“ Doch auch wenn es wärmer wird: „Wir schlafen unruhig“, sagt der 43-Jährige und zuckt die Achseln. „Aber was soll man machen?“ Im Winternotprogramm haben sie es nicht mehr versuchen wollen, seit sie vor zwei Jahren nach einem Streit rausgeflogen seien. 

Auch Hinz&Künztlerin Annie möchte eine der Uhren tragen. „Würde mich doch mal interessieren, wie viel Erholung ich in meiner Schlaftüte so kriege“, sagt die 46-Jährige. Sie macht unter einer Kanalbrücke Platte. Auch Annie hat es mit dem Winternotprogramm versucht und dort keine guten Erfahrungen gemacht. Ausführen möchte sie das nicht.   

Auch ihre Platte unter der Brücke wird von Laternen beleuchtet. Am Abend kommen Jogger:innen und Spaziergänger:innen vorbei. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Frachtschiffe sind grell, und die Schreie der Möwen hallen laut nach. Annie liest oder spielt auf ihrem Handy, bis sie einschlafen kann. „Jede Nacht ist anders“, sagt sie. Deswegen habe sie keine Ahnung, was die Auswertung ihrer Uhr ergeben wird.  

„Streng wissenschaftlich ist das mit den Trackern nicht“, sagt Robert Göder, Schlafmediziner und Psychiater am Zentrum für integrative Psychiatrie in Kiel. Aber wenn drei Menschen für jeweils drei Nächte die Uhren tragen würden, gebe es für ihn genug Anhaltspunkte, um ihren Schlaf medizinisch zu bewerten.  

Im Schlaflabor untersucht der 61-Jährige den Schlaf von Pa­tien­t:innen anhand von Hirnströmen. Um den Schlaf von Obdachlosen zu untersuchen, findet er das Labor jedoch ungeeignet. Die Idee, dass die Versuchsteilnehmenden nachts Fit­nessuhren tragen, überzeugt ihn. Schon oft habe er Ergebnisse seiner Laborunter­suchungen mit denen von Trackern verglichen. Sie stimmten meistens zu 70 Prozent überein. Die Schwäche der Uhren liege vor allem darin, die einzelnen Schlafphasen nicht unterscheiden zu können. Das sei für den Hinz&Kunzt-Versuch aber nicht ausschlaggebend. 

In der ersten Nacht hat Annies Uhr eine Schlafdauer von sechs Stunden und 13 Minuten gemessen. Davon habe sie vier Stunden unruhig geschlafen.  Fast eine halbe Stunde hat sie wach ­gelegen. Das wird in der zur Uhr ge­hörenden App in Diagrammen abgebildet. „Keine erholsame Nacht“, sagt Robert Göder. Annie habe die meiste Zeit nur gedöst. Das könne der Tracker messen, da man sich in diesem Schlafstadium noch viel bewege.  

Im Schnitt brauchen Menschen pro Nacht siebeneinhalb Stunden Schlaf, sagt der Mediziner. Erst ab einem Alter von ungefähr 70 Jahren brauche der Körper nur noch sechs Stunden.

In Pullover, Mütze, Schal und Winterjacke eingepackt, versucht Sven auf seiner Platte zu schlafen. Foto: Mauricio Bustamante

Die Uhren von Esra und Sven ­zeigen nach der ersten Nacht null ­Minuten Schlaf an. „Na kein Wunder, wir haben auch nicht geschlafen“, sagt Esra. Müde sitzt das Paar am nächsten Morgen vor einer Drogerie in der Innenstadt und bettelt. Sicherheitsmitarbeiter hätten sie am späten Abend weggeschickt. „Wir dürfen da aber schlafen“, sagt Sven. Er habe mit den Mieter:innen, die das Hausrecht haben, besprochen, dass sie unter ­ihrem Vordach übernachten. „Die ­wissen, wie sauber wir sind. Bei uns ist alles chicko-micko“, sagt er stolz. Nachdem die Sicherheitsmitarbeitenden sie trotzdem vertrieben hatten, habe die Suche nach einem neuen Schlafplatz gedauert. „Du musst erst mal was Freies finden hier“, sagt Esra. „Um 6.30 Uhr kommt der Weckdienst, da müssen wir dann eh weg.“ Der „Weckdienst“ besteht aus Polizist:innen, die morgens durch die Innenstadt laufen und Obdachlose auffordern, ihre Platten zu räumen.

„Es kann gut sein, dass Esra und Sven in dieser Nacht so wenig Ruhephasen hatten, dass der Tracker sie nicht erkannt hat“, sagt Robert Göder. Für den Fall, dass die Uhren kaputt sein sollten, beantwortet das Paar Hinz&Kunzt Fragen, die der Arzt auch im Schlaflabor stellt.  

„Aus medizinischer Sicht haben beide ganz klar relevante Schlaf­störungen“, stellt Göder nach der Auswertung fest. „Noch stärker als ich vermutet hatte.“ Für das obdachlose Paar sei das gefährlich: Das Immunsystem funktioniere bei starkem Schlafmangel, der länger als drei ­Monate anhält, nicht mehr gut. In der Folge seien Menschen anfälliger für Infekte und Schmerzen könnten stärker werden. Der Blutdruck steige und das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle. Auch Depressionen und Angststörungen kämen häufiger vor. „Menschen, die ständig zu wenig Schlaf bekommen, sterben früher“, sagt der Schlafmediziner.  

Laut einer Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) aus dem Jahr 2018 sterben Obdach- und Wohnungslose in Hamburg generell früher: bereits mit 49 Jahren. Eine weitere Studie des Klinikums zeigte 2022 zudem, dass ein Großteil obdachloser Menschen psychisch krank ist. Viele leiden an Angststörungen oder Depressionen.

Annie hat in der zweiten Nacht deutlich weniger geschlafen als in der vorherigen: eine Stunde und 24 Minuten. „Ganz erheblich zu wenig“, sagt Robert Göder. Annie erzählt, sie habe schon „viele beschissene Dinge“ erlebt während ihrer fast 28 Jahre auf der Straße. Da sei es schwer, abzuschalten und die Augen zuzumachen. „Die haben mir nachts schon in den Rücken getreten, direkt neben meinen Kopf gepisst und mich begrabscht“.  

In der zweiten Nacht haben auch die Uhren von Sven und Esra Schlafzeit aufgezeichnet. Sie sind also nicht kaputt, die beiden haben in der vor­herigen Nacht tatsächlich nicht geschlafen. Dass ihre Uhren exakt die gleichen Schlafzeiten aufzeichnen, wundert Robert Göder zwar, sie könnten sich aber gegenseitig aufwecken. Schließlich schliefen sie eng beieinander. Zwei Stunden und 24 Minuten sind es nun gewesen. „Immerhin.“ Sven ist mit dem Ergebnis zufrieden.

Esra dagegen ist genervt. „ Es war arschkalt und windig“, resümiert sie. „Ich hab’ so einen Hänger.“ Sie gähnt. „Ein Auge ist zu. Ein Auge ist immer offen. So ist das auf der Straße.“ 

Das Paar wurde nachts schon oft ­beklaut. Sie bewahre ihre Papiere bei ­Tagesaufenthaltsstätten auf. „Aber die haben mir schon Schuhe und einen Rucksack unterm Kopfkissen weggeklaut“, sagt sie. „Die Angst ist immer da.“ 

Annie hat in der dritten Nacht drei Stunden und 13 Minuten geschlafen. „Wieder viel zu wenig“, sagt Robert ­Göder. Die Hinz&Künztlerin habe die ganze Nacht zwischen gutem und unruhigem Schlaf geschwankt, sagt der Mediziner nach einem Blick auf die Aufzeichnungen der Uhr. „Die ständige Angst im Schlaf und die Unterbrechungen sind nicht gesund.“ 

Für Esra und Sven ist die dritte Nacht eine ganz besondere gewesen. Ein Straßensozialarbeiter konnte sie in einem Hotel unterbringen, in dem sie für zwei Wochen bleiben können. „Ich habe das erste Mal seit zwei Jahren in einem Bett, in einem warmen, trockenen Raum gepennt. Komplett ungewohnt“, sagt Sven. Esra ergänzt: „Ein Auge war trotzdem immer wach. Ich habe gar nicht geblickt, dass mir da niemand was kann.“ 

Die Uhren der beiden zeigen gerade einmal eine Stunde und 44 Minuten Schlaf an. Das sei sehr wenig, aber erklärbar, sagt ­Robert Göder. An eine neue Schlaf­umgebung müsse man sich erst gewöhnen. Deshalb gebe es im Schlaflabor die sogenannte Gewöhnungsnacht. Erst in der zweiten sei das Ergebnis der Messungen aussagekräftig „Die erste Nacht ist zu 90 Prozent schlechter.“  

Nicht einmal in allen drei Nächten zusammen hat das Paar so viel geschlafen, wie für eine Nacht empfohlen wird. „Ein erschreckendes Er­gebnis“, sagt der Mediziner. Annie hat ebenfalls in keiner Nacht auch nur annähernd siebeneinhalb Stunden geschlafen.

Immerhin: Die Schlafqualität von Esra und Sven sei in der Hotelnacht besser gewesen, sagt Robert Göder. Sie sind weniger oft aufgewacht. „Die nächsten Nächte können nur besser werden“, sagt Esra und grinst müde.

Artikel aus der Ausgabe:

Gut geschlafen?

Wie schlecht Obdachlose schlafen – und was das für ihre Gesundheit bedeutet. Wieso es im Stadtteil Niendorf Widerstand gegen neue Hilfseinrichtungen gibt. Außerdem: Besuch im Zusatzstoffmuseum und Interview mit Kettcar-Bassist Reimer Burstorff.

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Autor:in
Luca Wiggers
Luca Wiggers
1999 in Hannover geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist Anfang 2022 nach Hamburg gezogen. Seit Juni 2023 Volontärin bei Hinz&Kunzt.

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