Die Stadt eröffnet in Niendorf zwei Einrichtungen für Obdachlose. In der Bevölkerung ist ein Streit darüber entbrannt, ob der Stadtteil der richtige Ort dafür ist.
Im Wohngebiet, gleich neben einer Kita mit 55 Plätzen, stehen vor der Niendorfer Erlöserkirche weiße Wohncontainer. Wie jeden Winter haben darin zwei Frauen ohne Wohnung eine Bleibe gefunden. Schon seit 13 Jahren beteiligt sich die Kirchengemeinde am Winternotprogramm. Mehr als 40 Obdachlose fanden hier seitdem Schutz. Ärger mit den Nachbar:innen habe es nie gegeben, heißt es.
Einen Kilometer Luftlinie von hier gibt es schon Ärger, bevor die Obdachlosen überhaupt eingezogen sind. In einem ehemaligen Pflegeheim gegenüber einer Grundschule und einer Kita will die Stadt ab Ende April sukzessive bis zu 118 Schwerkranke unterbringen, Menschen im Rollstuhl, Dialysepatient:innen, Krebserkrankte. Nach so einem Standort habe man jahrelang händeringend gesucht, heißt es aus der Sozialbehörde. Ein Stück weiter den vielbefahrenen Garstedter Weg hinunter sollen zusätzlich 16 Obdachlose in einem Übergangswohnheim unterkommen, die entschlossen sind, ihr Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Das gab Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD) Ende Februar auf einer Pressekonferenz bekannt – als Maßnahmen, um die Situation rund um den Hauptbahnhof zu entspannen.
Seitdem geht ein Riss durch den Stadtteil im Norden Eimsbüttels. In vielen Köpfen setzte sich offenbar das Bild fest, dass die Szene vom Hauptbahnhof mit den vielen verelendeten und alkoholkranken Menschen bald in Niendorf das Straßenbild prägt. Schiefe Vergleiche des Stadtteils mit Astrid Lindgrens „Bullerbü“, das nun bedroht sei, werden angestellt. Eine Mutter sagt öffentlich, dass sie sich neuerdings aus Angst vor den Obdachlosen in den Schlaf weine. In Internetforen geht die Angst vor Spritzen im Gebüsch an der Kita um. Eine Initiative verteilt Flugblätter gegen die geplanten Einrichtungen.
Über solche Reaktionen aus der Bevölkerung können sie in der Erlöserkirche nur den Kopf schütteln. Vor dem Gemeindehaus hat sich an diesem Dienstag im März eine Gruppe von Ehrenamtlichen versammelt, die die Bewohnerinnen der Wohncontainer betreuen. Sie wollen am Abend gemeinsam zu einer Infoveranstaltung gehen, zu der die Behörde eingeladen hat, und dagegenhalten.
Wenn sie über Obdachlose sprechen, sprechen sie aus Erfahrung. „Das sind nicht nur Betrunkene und Drogenabhängige, das sind Menschen!“, sagt die 56-jährige Sabine Balgar, die seit dem vergangenen Jahr hier mit aushilft. „Es sind Leute, die unschuldig in diese Situation gekommen sind“, ergänzt der 83-jährige Heinz Dreyer, der von Anfang an dabei ist und schon viele unterschiedliche Menschen betreut hat: einen Alkoholkranken, misshandelte Sexarbeiterinnen, eine Transfrau. „Das gehört alles dazu“, sagt er. „Das läuft hier alles sehr gut.“
Pastorin Maren Gottsman stimmt dem zu. „Es hat nie Probleme gegeben”, sagt sie. „Wir haben eine Hausordnung, die auch umgesetzt wurde, das Gelände wurde sauber gehalten, es gab keinen Alkoholkonsum auf dem Gelände.“ Die Nachbar:innen und die Kitakinder, glaubt sie, hätten die Obdachlosen gar nicht wahrgenommen. Aber manche würden ihnen zu Ostern oder Weihnachten kleine Geschenke vor die Tür stellen.
Entsprechend verwundert ist sie angesichts der Debatte, die über die geplanten Einrichtungen am Garstedter Weg entbrannt ist. „Niendorf ist nicht das, was aktuell über bestimmte Medien transportiert wird“, sagt sie. „Ich erlebe unseren Stadtteil als sehr positiv und unterstützend, erst recht gegenüber Menschen, die Unterstützung benötigen.“ Eine Schilderung, die uns auch von örtlichen Hinz&Kunzt-Verkäufer:innen so bestätigt wird.
Und doch schlagen die Wogen auf der Veranstaltung der Sozialbehörde hoch, die Spannung in der Luft ist mit Händen zu greifen. Das Einzige, worauf sich hier wohl fast alle einigen können: Die Informationspolitik, mit der die Behörde die Menschen im Stadtteil vor vollendete Tatsachen gestellt hat, hat Vertrauen zerstört. Zigmal entschuldigt sich die zuständige Staatsrätin Petra Lotzkat dafür, doch das Kind ist in den Brunnen gefallen. Viele wollen ihr schon aus Prinzip nicht mehr glauben, scheint es.
Zweieinhalb Stunden lang wabert eine wilde Mischung aus irrationalen Ängsten, Vorurteilen gegenüber Obdachlosen und sachlichen Fragen nach dem Konzept der Einrichtungen durch die prall gefüllte Kirche am Markt. Ein Mann will wissen, wie sich die Immobilienwerte in der Nähe von Obdachlosenunterkünften entwickeln. Eine Frau berichtet, in ihrem Vorgarten hätte schon mal ein Obdachloser gelegen, ob das jetzt öfter so sein werde. Andere fühlen sich zu Unrecht als obdachlosenfeindlich abgestempelt, sie hätten doch bloß Fragen. Etwa, wieso nachts kein Pflegepersonal im Heim sein soll oder wie man seiner Tochter mögliche Begegnungen mit Betrunkenen erklären soll. Eine junge Frau sagt, sie hätte mehr Angst vor so manchen im Raum als vor den Obdachlosen, die kommen sollen. Eine andere begrüßt, dass ihre Kinder in ihrem Alltag auch mal mit der Realität von Obdachlosigkeit konfrontiert sein werden. Um die 400 Menschen sind gekommen, welche Seite die Mehrheit hat, lässt sich nicht klar sagen.
„Unsere Aufgabe ist es nun, die Ängste aufzunehmen und abzubauen.“– Maren Gottsmann
Die Vertreterinnen von Sozialbehörde und Unterkunftsbetreiber Fördern & Wohnen geben sich alle Mühe, die Wogen zu glätten: Man ist besorgten Bürger:innen bereits in vielen Punkten entgegengekommen. Ein Sicherheitsdienst soll anfangs um die Unterkunft für Pflegebedürftige patrouillieren, um Eltern die Angst zu nehmen. Die Einrichtung wird eine Woche später als geplant eröffnet, damit die Schule Zeit hat, ein pädagogisches Konzept zu entwickeln. Das Übergangswohnheim in der Fett’schen Villa wird erst im Frühsommer nachziehen. Die Obdachlosen, die nach Niendorf kommen, sollen „handverlesen“ werden, also nicht drogenkrank sein, dafür aber „regelfähig“. Niemand werde abends mit der Wodkaflasche besinnungslos vor der Tür stehen, beschwichtigt die Staatsrätin. Aber ja, wie alle anderen auch dürften die Menschen in den Einrichtungen mal Alkohol trinken. Im Publikum sitzt auch Dirk Hauer vom Diakonischen Werk und erinnert daran, dass es durch die Unterbringung von jeweils bis zu 20 Obdachlosen in mehreren Hotels während der Pandemie keine negativen Auswirkungen auf die Nachbarschaften gab. Aber es hilft nichts, die Stimmung ist auch nach Stunden der Debatte noch gereizt.
Pastorin Gottsmann ist nach der Veranstaltung schockiert. Die Gruppe, die in der Kirche andere niederbrüllen wollte, kannte sie noch nicht. „Das sind Menschen, vor denen ich Angst habe. Mit Obdachlosen habe ich so was noch nicht erlebt“, sagt sie. Gleichwohl differenziert sie sorgsam zwischen Aggressiven und solchen mit nachvollziehbaren Sorgen. „Man muss Verständnis haben für Menschen, die Ängste haben“, sagt Gottsmann. „Unsere Aufgabe ist es nun, die Ängste aufzunehmen und abzubauen.“
Sie ist zuversichtlich, dass das gelingen wird, jedenfalls bei den meisten: „Bislang war das Motto im Stadtteil: ‚Auf Niendorf ist Verlass.‘ Und das wird es auch trotz derer, die aktuell so laut sind, sein. Da bin ich mir sehr sicher.“ Womöglich hat sie recht: Neben Beschwerden sollen in der Sozialbehörde auch eine ganze Reihe an Angeboten von Menschen eingegangen sein, die sich ehrenamtlich für die Niendorfer Obdachlosen engagieren wollen. Und Hinz&Kunzt erreicht die E-Mail einer Mutter, deren Kind bald neben einer Obdachlosenunterkunft zur Schule geht. „Sehr wohl wissen wir als Eltern und auch unsere Kinder, dass auch in Bullerbü nicht nur Sonnenschein ist“, schreibt sie. „Und natürlich gehören diese Menschen auch nach Bullerbü!“
Kommentar: Keine Angst vor Obdachlosen!
Aber wovor genau haben Sie eigentlich Angst? Vielleicht kann meine Erfahrung Sie ja beruhigen: Meistens treten die Männer auf unserem Weg zur Kita etwas verschämt zur Seite, einige erwidern mein „Moin“, andere nicht. Das wars. Ich käme nicht auf die Idee, dass diese Situation eine Gefahr für mein Kind sein könnte.
Und wissen Sie was? Sogar Drogenkranken laufen wir manchmal in unserem Viertel über den Weg, weil auch für sie Hilfeeinrichtungen in der Nähe sind. Manchmal finde ich es etwas unangenehm, wenn sie offensichtlich weggetreten sind. Aber so ist das halt, unsere Gesellschaft hat viele Probleme. Es gibt kein Recht darauf, nicht mit ihnen konfrontiert zu werden. Nirgendwo.
Stattdessen wird mein Kind lernen, dass die Welt kein perfekter Ort ist, man aber auch Menschen freundlich begegnen kann, die weniger Glück im Leben hatten. Und vielleicht kann ich ihm auch beibringen, dass man die Welt zu einem besseren Ort machen kann, wenn man sich Mühe gibt. Indem man Menschen hilft oder sich dafür einsetzt, dass der Sozialstaat es mit der notwendigen Nachhaltigkeit tut. Dann hätten am Ende alle etwas davon: Die Betroffenen bekämen Hilfe, mein Kind lernte soziale Kompetenz und sein Papa wäre stolz wie Oskar. bbu