Offener Brief :
Gipfelnotprogramm für Obdachlose

Bereits in der Mai-Ausgabe berichtete Hinz&Kunzt über die Sicherheitsmaßnahmen zum G20-Gipfel. Titelbild: Dmitrij Leltschuk

Für uns Hamburger wird es im Vorfeld und während des G20-Gipfels Einschränkungen geben. Trotzdem können wir überlegen, ob wir demonstrieren gehen, zuhause bleiben oder einfach wegfahren. Obdachlose können das nicht. Daher wenden wir uns mit einem Offenen Brief an die Politik.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Sehr geehrter Herr Grote, sehr geehrte Frau Leonhard, sehr geehrter Herr Scholz,

setzen Sie zum G20 ein Zeichen! Schützen Sie die schwächsten Bewohner der Stadt, die Obdachlosen! Geben Sie ihnen während des Gipfels eine Gipfelnotunterkunft!

In einigen Wochen beginnt der G20 – und wir machen uns Sorgen über die Situation der Obdachlosen in dieser Zeit.

Wir waren in intensiven Gesprächen mit Ihnen, Frau Senatorin Leonhard. Und wir hatten sogar einen eigenen Gesprächstermin bei der Polizei und haben die Einsatzpläne exemplarisch für ein Hotel einsehen dürfen. Die Polizei spricht davon, dass die Obdachlosen manchmal ja nur die Straßenseite wechseln müssen, wenn ein Staatsgast vorbeifährt oder in sein Hotel will. Oder dass „individuelle Lösungen“ gefunden werden.

Das alles hat uns nicht beruhigen können. Denn es geht uns nicht nur um die definierten Sicherheitszonen, es geht uns um die Gebiete, in denen Demonstrationen zu erwarten sind.

Die ganze Stadt ist in Aufruhr, weil unklar ist, welche Einschränkungen der Gipfel mit sich bringt. Manche Kaufhäuser und Geschäfte überlegen, an bestimmten Tagen zu schließen. Manche Schulen überlegen, ob die Kinder zuhause bleiben sollen oder nicht. Buslinien in die City werden umgeleitet und es gab die Empfehlung, nicht in Innenstadt zu fahren, wenn man nicht etwas Dringendes erledigen müsse. Für die Geschäftswelt kann dies zu großen finanziellen Einbußen führen, für uns Bürgerinnen und Bürger vielleicht zu manchen Unannehmlichkeiten. Aber wir alle können uns entscheiden, einfach in der Zeit wegzufahren oder zuhause zu bleiben.

Obdachlose können zum Spielball der Sicherheitsvorkehrungen werden

Für Obdachlose gilt das nicht. Sie sind auf der Straße. Schutzlos. Und womöglich mit ihren Rucksäcken, ihren Schlafsäcken und ihrem Gepäck im Weg. Sie können zum Spielball der Sicherheitsvorkehrungen werden, die wir gar nicht in Frage stellen wollen. Der Gipfel löst bei Normalbürgern ja schon Unsicherheit und Ängste aus. Vielleicht können Sie dann ermessen, welche Verunsicherung und Ängste das zu erwartende Polizeiaufgebot und die Vorkehrungen bei Menschen auslösen kann, die physisch wie psychisch an der Wand stehen.

Obdachlose brauchen eine Ausweichfläche – eine Art Gipfelnotprogramm
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Wir verstehen auch nicht, dass Sie nicht eine Ausweichfläche, zum Beispiel einen Campingplatz, oder eine Unterkunft für die Menschen bereitstellen. Und zwar so rechtzeitig, dass wir die Obdachlosen dorthin begleiten können. Viele Kollegen und ehemalige Obdachlose würden die Unterkunft auch bei den Obdachlosen bekannt machen.

Stattdessen wird von individuellen Lösungen gesprochen. Und das bei 200 bis 300 potentiell betroffenen Obdachlosen. Individuelle Lösungen sind sowieso kein Garant für gute Lösungen. Schon gar nicht, wenn alle unter enormen Zeitdruck stehen. Und „individuell“ kann alles heißen. Auch Vertreibung – und wir erfahren es dann erst wesentlich später. Oder erfahren es zeitnah, können aber nichts tun, weil wir Hilfsorganisationen keine Unterkünfte haben.

Wir wenden uns mit diesem offenen Brief an Sie: an den Innensenator, an die Sozialsenatorin und an den Bürgermeister. Warum müssen wir uns alle diesem unnötigen Stress aussetzen? Noch könnten Sie ein Mut machendes Zeichen für diesen umstrittenen Gipfel setzen – indem Sie zeigen, dass Hamburg sich gerade jetzt um seine schwächsten Bürger kümmert.

Autor:in
Birgit Müller
Birgit Müller
Birgit Müller hat 1993 Hinz&Kunzt mitgegründet. Seit 1995 ist sie Chefredakteurin.