Als Frau auf der Straße

Misshandelt, geschlagen, begrapscht

War viele Jahre obdachlos: Hinz&Künztlerin Annie. Foto: Dmitrij Leltschuk
War viele Jahre obdachlos: Hinz&Künztlerin Annie. Foto: Dmitrij Leltschuk
War viele Jahre obdachlos: Hinz&Künztlerin Annie. Foto: Dmitrij Leltschuk

Hinz&Künztlerin Annie (46) hat einen Großteil ihres Lebens auf der Straße verbracht. Heute hat sie eine Wohnung. Doch darauf vertrauen, dass alles gut ausgeht, kann sie nicht mehr.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Drei Tage, bevor Annie auf den Türsummer drückt und das Reporterteam in ihre Wohnung lässt, hatte sie etwas zu feiern: 28 Jahre Hinz&Kunzt. Ihren Ausweis, so erzählt sie stolz, bekam sie am 12. Oktober 1996. Sie war 18, erst wenige Monate in Hamburg – und endlich frei, so dachte sie damals.

Heute hat Annie die Hoffnung auf ein Happy End aufgegeben. „Ich habe das Gefühl, dass früher oder später diese Arschloch-Attacken wieder losgehen“, sagt sie. Sie hat eine Wohnung, ja, sie hatte Glück. „Aber ich vertraue dem Frieden nicht“, sagt Annie, und ihre Stimme wird laut und hart. „Weil man mich zu oft belogen, hintergangen und mir das Paradies präsentiert hat. Und in Wahrheit war es nichts weiter als eine 100-fache Hölle.“

„Nichts weiter als eine 100-fache Hölle.“

Hinz&Künztlerin Annie

Ein Zuhause, in dem sie sich sicher fühlte, hat Annie nie gehabt. Sie wuchs auf in Freising bei München, bei ihrer Mutter, aber Annie nennt sie nicht so. Sie sagt: „Die allmächtige Schlampe.“ Die Frau habe sie von klein auf misshandelt, geschlagen, gequält und vor anderen als Lügnerin dargestellt, selbst beim Kinderarzt. Wenn der Arzt Annie selbst fragte, woher ihre Blessuren kamen, „dann ging es ganz schnell raus aus der Praxis“.

Details führt sie nicht aus, was sie sagt, lässt sich nicht überprüfen. Aber der Hass, mit dem sie ihre Worte ausspuckt, ist echt. Als wollte sie mit der Härte ihrer Sprache den Verletzungen etwas entgegensetzen, die in ihrem Innern seit Jahrzehnten wehtun.

Dabei gibt es auch Momente in ihrer Jugend, von denen erzählt sie mit weicher Stimme. Augenblicke der Zuflucht, wenn sie bei ihrer Oma Trost suchte. Der Moment, in dem sie ihren kleinen Halbbruder, den Sohn ihres Vaters, kennenlernte und der ihr spontan um den Hals fiel. „Da habe ich das erste Mal einfach nur Wärme gespürt“, sagt sie. Ihr Vater sei ein sehr lieber Mensch, sagt Annie. Er habe immer Unterhalt gezahlt für seine uneheliche Tochter. „Aber er war eigentlich nie da.“ Ihr gegen die Mutter beistehen konnte er ebenso wenig wie die Oma.

Ins erste Kinderheim ging Annie, wie sie sagt, freiwillig. Doch das Heim entpuppte sich als „die nächste Stufe des gelebten Horrors“. Sechsmal riss sie aus, immer wieder wurde sie zurückgebracht, von der Polizei oder ihrer Mutter. „Ich sollte anscheinend komplett psychisch gebrochen werden, richtig zu Klump“, sagt sie. Geholfen habe ihr niemand, nicht in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, nicht in Heimen oder Wohngruppen. Nach jedem Hilfeschrei sei sie noch mehr drangsaliert worden.

Kurz vor ihrem 18. Geburtstag kehrte Annie nach einem Termin in München nicht nach Hause zurück. Sie schlief bei einem Fremden, tags darauf stieg sie mit ihm in einen Zug Richtung Frankfurt. „Da versuchte er dann, sich an mir zu vergreifen“, erzählt sie. Sie rächte sich mit einem Griff in sein Portemonnaie, als er auf der Toilette war, haute ab und kaufte sich ein Ticket nach Hamburg-Altona. Dort brachte die Polizei sie in eine Notschlafstelle für Minderjährige und ordnete die Rückführung nach Bayern an, doch Annie haute vorher ab. Sie lernte ihren ersten Freund in Hamburg kennen und versteckte sich bei ihm. „Als mein 18. durch war, mein Gongschlag, da dachte ich: Jetzt wollen wir doch mal sehen.“

Annie ist noch immer auf der Hut, obwohl sie endlich wohnt. Foto: Dmitrij Leltschuk
Annie ist noch immer auf der Hut, obwohl sie endlich wohnt. Foto: Dmitrij Leltschuk

Wie lange sie auf der Straße lebte, kann Annie nicht beziffern. Mal war sie in Hamburg, längere Zeit auch in „Kölle“, in Göttingen oder Berlin. Immer wieder versuchte sie es in Unterkünften, hielt es aber dort nicht lange aus, weil sie sich überall schikaniert fühlte. Sie habe viel getrunken, gekifft, auch härtere Drogen genommen, wenn auch nicht jede. „Ich hab so viel Scheiße erlebt“, sagt Annie. Dass sie auf ihrer Platte ständig angeglotzt wurde, setzte ihr zu, aber dabei blieb es nicht. „Du wirst angepöbelt, geschlagen, begrapscht, sie pissen und scheißen direkt neben dir. Es wird dir der Schlafsack aufgeschlitzt, man versucht dich anzuzünden, oder du wirst mit Extralärm bedacht, man tritt dir in den Rücken …“

Wer macht so etwas? Annies Schimpfworte legen nahe: Es waren meist Gruppen junger Männer, manchmal in Begleitung von Frauen. Sie griffen „aus Spaß“ an, filmten ihre Gewalttaten lachend mit dem Handy. Annie kennt den Fachbegriff: „Happy Slapping, musst du mal im Internet gucken.“ Immer dort, wo sie als Obdachlose sichtbar wurde, habe sie Gewalt erfahren.

Obdachlose Frauen erfahren oft noch mehr Verachtung als Männer und werden häufig Opfer von Gewalt. Annie erzählt, dass sie auf der Platte manchmal mit einer fremden Hand zwischen den Beinen aufwachte. Mehr als einmal erlebte sie, dass Wachleute einer Notschlafstelle sie bei Kontrollen übergriffig anfassten. Weil sie eine Frau ist? „Jein.“ Sie wolle nicht ausschließen, dass auch obdachlose Männer sexuelle Übergriffe erleben. Annie sieht sich als Mensch gebrandmarkt. „Man braucht ja immer jemanden, an dem man seine ganze Arschlocherei abladen kann – und das bin meistens und grundsätzlich ich.“

Trotz allem kann Annie offen auf Menschen zugehen, sich interessieren für andere – etwa für die Leute, die sie im Chat des Onlinespiels „Star Trek Timelines“ trifft. Es sind Gamer aus den USA, Australien oder England, Annie chattet mit ihnen auf Englisch. Einer erzählte ihr von seinen Vorfahren: Native Americans. „Ich dachte, ich brech zusammen!“, sagt Annie lachend. Sie steht auf und holt eines ihrer Lieblingsbücher hervor, eine illustrierte Enzyklopädie über indigene Stämme Nordamerikas. Schon auf der Straße hatte sie es immer bei sich. Das Cover habe sie „geopfert“, sagt Annie, so passte es besser ins Gepäck. „Ich bin nicht aus irgendeiner Karl-May-Verklärung Indianerfan, sondern wirklich aus herzlichem Empfinden.“ Dann verfinstert sich ihr Gesicht. „Deren Geschichte ist auch so was von im Arsch.“

Von einer Sekunde auf die nächste kann Annies Stimmung umschlagen. „Diese Wut“, sagt sie, „die ist immer noch da. Und die wird auch nicht verschwinden.“ Sie sackt in sich zusammen: „Ich kann zwar nach vorne gucken, aber … da ist zu viel, da ist zu viel.“

Sie sei den Sozialarbeiterinnen bei Hinz&Kunzt dankbar, dass sie ihr die Wohnung vermittelten, auch über die „sehr soziale Wohnungsverwaltung“ der Lawaetz-Stiftung sei sie froh. Sie kann nun die Tür hinter sich abschließen, ist vor Übergriffen wie auf der Straße sicher. Aber innerlich bleibt sie auf der Hut. Ihre Balkontür hat sie mit Pappe zugeklebt, damit niemand reinschauen kann. Sie könne nicht mehr darauf vertrauen, sicher zu sein. „Vertrauen“, sagt Annie, „ist ein Arschwisch-Papier, das zu oft benutzt wurde.“

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 381

Von der Straße auf die Bühne

Xenia Brandt war obdachlos – heute ist sie Comedian und verarbeitet so ihre Erfahrungen. Außerdem im Schwerpunkt über obdachlose Frauen: Wie Periodenarmut zu psychischen Problemen führt. Und: Hinz&Künztlerin Annie erzählt über Gewalt und Erniedrigung auf der Straße.

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Autor:in
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein
Annabel Trautwein schreibt als freie Redakteurin für Politik, Gesellschaft und Kultur bei Hinz&Kunzt - am liebsten über Menschen, die für sich und andere neue Chancen schaffen.

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