Thomas, David und Le wurden immer wieder von ihren Schlafplätzen verscheucht. Deshalb haben die Obdachlosen in einem Wäldchen ihr Zelt aufgebaut – und suchen Perspektiven.
Wer die Vertriebenen besuchen will, braucht Hinweise. Nach einer U-Bahn-Fahrt raus aus der City führt der Weg an hübschen Kleingärten vorbei über einen kleinen Wassergraben in ein Waldstück hinein. Dort, verborgen hinter dichtem Grün, steht unter Bäumen ein Drei-Mann-Zelt. Ein kühler Wind weht an diesem Nachmittag im Mai, nicht fern lärmt der Verkehr einer Bundesstraße. „Nachts hörst du hier gar nichts“, sagt Thomas, ein Mann mit wachem Blick und Vollbart, der vermutlich jedes Casting gewinnen würde, bei dem ein „Typ Berber“ gesucht wird. „Du wachst auf, und die Vögel zwitschern.“
Auch wenn es anders scheint: Die Obdachlosen haben sich diesen Ort nicht freiwillig gesucht – sie wurden von anderen Schlafplätzen vertrieben. Thomas hat bis Ende April in der Innenstadt und nahe der Kennedybrücke geschlafen. Dort hat er David und Le kennengelernt, die zuvor gemeinsam in Wandsbek Platte gemacht haben. Die Polizei hatte die beiden weggescheucht. An der Alster erging es den nun drei Obdachlosen nicht anders, so erzählen sie. „Ich kann das verstehen, wenn man sich unverschämt benimmt“, sagt David, ein 35-Jähriger mit leiser Stimme und Mütze. „Aber wir sind immer ruhig und achten auf Sauberkeit.“
Geholfen hat ihnen das wenig. Deshalb haben die drei beschlossen, sich jenseits der City eine Platte zu suchen, „einen Ort, an dem uns die Menschen nicht sehen können, wo wir nicht stören“, wie David es ausdrückt. Le hat vor Jahren mal in einer Wohnung nahe der Kleingärten gelebt. Und erinnerte sich an das Waldstück, das als Zufluchtsort wie geschaffen scheint.
Schon am ersten Tag bekommen die Zugezogenen Besuch: Ein Paar aus der Siedlung wirft neugierige Blicke, sagt „Hallo“ – und schenkt den neuen Nachbarn Essen und einen kleinen Gasgrill. „Wenn ihr etwas braucht, kommt vorbei!“, sagen die beiden zum Abschied. Im Gegenzug bieten die Obdachlosen Hilfe an, etwa beim Heckeschneiden.
Kompliziert wird es mit dem Kleingärtner, der sich am Tag darauf vor dem Zelt aufbaut: Was sie hier machen würden? Die drei legen die Karten offen auf den Tisch – nur wenige Stunden später stehen drei Polizist:innen vor ihnen. Freundlich seien die gewesen, erinnern sich die Obdachlosen, aber bestimmt: Bis zum folgenden Tag müssten sie verschwinden. Fest steht: Das Waldstück, in dem sie zelten, ist öffentlicher Grund, dessen Nutzung durch andere sie nicht behindern. Die Obdachlosen sagen nichts, doch ihre Entscheidung ist sofort klar, berichtet Thomas: „Wir bleiben! Wo sollen wir auch hin?“
In ihrem Zelt sieht es ordentlicher aus als in manch einem Kleingarten: Glatt gestrichen liegen im Inneren drei Schlafsäcke nebeneinander. Im Vorzelt stehen sauber gestapelt Plastikkisten, gefüllt mit Konserven, Marmeladengläsern, Obst und Gemüse. Zum Lagern verderblichen Essens wollen die drei ein Erdloch graben; den Spaten hat ein freundlicher Kleingärtner schon in Aussicht gestellt. Auch Wasser können sie sich regelmäßig bei den Nachbar:innen holen. Thomas erzählt, wie er eine Kleingärtnerin mit Kindern davon überzeugen konnte, dass von ihm und seinen Kumpels keine Gefahr droht: Ob er einen Kanister Wasser abfüllen dürfe, habe er sie über den Zaun gefragt. Sie habe „Angst, dass ihr hier rüberkommt“, habe die Frau zunächst geantwortet. Nachdem er ihr mehrmals versichert habe, dass sie nichts Böses planen, öffnete sie die Gartentür.
Neben ihrem Zelt haben die Obdachlosen zwei kleine Gemüsebeete angelegt, Richtung Kleingärten aus Ästen einen Sichtschutz gebaut. Sie wollen niemanden belästigen oder den Eindruck erwecken, sie machten sich übermäßig breit. Weshalb sich die drei auch penibel an die Anstandszeiten halten, sagt Thomas: „Mittags ist Ruhe, und um 22 Uhr ist bei uns Schluss.“
Der 58-Jährige lebt seit März in Hamburg auf der Straße. Davor habe er in Niedersachsen als Garten- und Landschaftsbauer für eine Stiftung gearbeitet, die Obdachlosen eine Chance zum Neustart bietet. Er habe dort auch eine Wohnung gehabt, aber: „Ich kam nicht mehr klar.“ Thomas hat dort mehrere Qualifikationen erworben: „Führerschein, Staplerschein, Kettensägenschein.“ Weil das Projekt der Stiftung Bürgergeldbeziehende unterstützen soll, den Weg zu einem regulären Job zu finden, bekommen sie nur 1,20 Euro die Stunde als Lohn – nach vier Jahren für Thomas nicht mehr verständlich: „Ich habe die gleiche Arbeit gemacht wie die Gesellen!“ Mehrfach habe er gefragt, ob er in einen sozialversicherungspflichtigen Job mit besserer Bezahlung wechseln könne – vergeblich.
Le, 51, gelernter Möbeltischler, lebt seit 38 Jahren in Hamburg. Zuletzt habe er zweieinhalb Jahre lang eine Alkoholentzugstherapie gemacht und danach einige Monate in Unterkünften oder auf der Straße geschlafen. David ist Anfang des Jahres nach Hamburg geflohen, aus einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt. Er hat sich dort die vergangenen Jahre kaputtgearbeitet, erzählt der 35-jährige gelernte Hauswirtschafter, in einer Bäckerei und am Fließband. Manchmal habe er sogar zwei Schichten hintereinander gemacht. Zum Reden nach Feierabend aber habe er niemanden gehabt: „Da bin ich krank geworden.“ Er suche in Hamburg einen Neuanfang: „Hier bin ich zur Ruhe gekommen. Hier habe ich mehr Möglichkeiten, etwas Neues zu machen. Und hier habe ich Menschen gefunden, die mir zuhören.“
Drei Wochen später. Thomas und David haben aus dicken Ästen ein Gerüst gebaut, unter dem ein Campingtisch steht. Neben dem Zelt liegen Wellblech und Plastikplatten, die bald vor Wind und Regen schützen sollen – das Geschenk einer Nachbarin, der sie bei Abbrucharbeiten in ihrem Garten geholfen haben. Aber wo ist Le, der Dritte im Bunde? Es gab Streit, erzählen die beiden. Schließlich habe ihr Kumpel wortlos seine Sachen gepackt und sei verschwunden. „Keine Ahnung, wo er ist“, sagt Thomas.
Der Obdachlose ist inzwischen beim Jobcenter gewesen. Sein Berater dort sei „super“, berichtet er. Gibt es einen Job für ihn, wird das Amt sich melden, über die Caritas, bei deren Tagestreff Thomas regelmäßig seine Post abholt. David hat noch diesen Monat einen Termin bei der Arbeitsagentur. Bis das Amt das Arbeitslosengeld bewilligt, das ihm zusteht, teilt Thomas seine monatlichen 502 Euro Bürgergeld mit ihm.
Sie wollten mit ihrer Geschichte darauf aufmerksam machen, dass „Obdachlose aus der Stadt herausgeekelt werden“, sagt Thomas zum Abschied. In seiner Stimme klingt Empörung. „Wir wollen doch nur überleben.“ Den Sommer über wollen sie auf jeden Fall im Wäldchen bleiben. „Im Winter müssen wir gucken.“ Notunterkünfte sind keine Alternative: Entweder haben sie selbst schlechte Erfahrungen gemacht, erzählen sie, oder sie haben von solchen gehört. Eine Wohnung wäre schon gut, räumt Thomas ein. Eines aber sei klar: „Wir bleiben zusammen.“