„Er war doch ein Mensch, oder?“– Am Neujahrsmorgen wurde in Altenwerder ein Obdachloser tot aufgefunden.Albert B. erfror dort in einem Gebüsch. Doch wer war der Mann, von dem die Polizei nicht mehr verrät als Vorname und Alter? Eine Spurensuche
(aus Hinz&Kunzt 216/Februar 2011)
Der Wochenblattzusteller ahnt nichts, woher auch. Der Name steht schließlich noch an der Tür, B., genauso wie unterm Briefschlitz, also quetscht er die Zeitung achtlos hinein und eilt weiter. Das nächste Mal wird es schwieriger, der Briefkasten quillt langsam über. Denn hier wohnt keiner mehr, der ihn leeren könnte. Anfang Dezember wurde Albert B.s Wohnung in Neuwiedenthal zwangsgeräumt, der 64-Jährige damit obdachlos. Und schon den Jahreswechsel erlebte er nicht mehr. Albert B. ist tot. Erfroren in einem Gebüsch.
Spaziergänger fanden seine Leiche am 1. Januar im Gewerbegebiet von Altenwerder. Sie lag, teilweise von Schnee bedeckt, an einem Wanderweg, daneben ein Schlafsack und einige Zeltstangen. Hier, an einem einsamen Stück Grünfläche zwischen Containerterminals und Speditionsfirmen, zwischen brackigem Wasser und mächtigen Windrädern, umgeben vom stetigem Verkehrsrauschen – hier endet am Neujahrsmorgen eine Geschichte, hier endet ein Leben. Das Leben von Albert B.
Die Pressemeldung der Polizei verrät nur Vorname und Alter, bei der Obduktion werden Vorerkrankungen an Herz und Lunge festgestellt, niemand scheint mehr zu wissen, niemand hat Albert B. als vermisst gemeldet. Aber dann kommt der Hinweis auf diese Adresse in Neuwiedenthal – eine erste Spur auf der Suche nach Albert B.s Geschichte.
„Bergab ging es mit ihm ja schon lange“, sagt Holger Kallert. Seine Wohnung liegt direkt über der von Albert B., eine Zeit lang war er mit dessen Stieftochter verheiratet. Von Alberts Tod wusste er noch nichts. Durch die geöffnete Balkontür strömt frische Luft, der Blick fällt auf Bäume, drumherum Endlosreihen von rosa- und türkisgestrichenen Wohnkomplexen der SAGA. Hier leben viele Menschen auf engem Raum, einer fehlt jetzt, kaum jemand bemerkt es. „Zu den Nachbarn hatte Albert keinen Kontakt“, erzählt Holger Kallert, „er hat bestimmt zwölf, 13 Jahre hier gewohnt, aber besucht hat er nur mich.“ Nicht regelmäßig, aber in den vergangenen Monaten sei er häufiger vorbeigekommen: Manchmal morgens, dann machte Holger Kallert Kaffee, manchmal nachmittags oder abends auf ein Bierchen. Und zum Fernsehen. „Geredet haben wir kaum, das war nicht seine Art. Über seine Vergangenheit weiß ich fast gar nichts.“
Schwierig sei Albert gewesen, oft auch jähzornig und laut. Seine Kinder – „ich glaube, es gibt da mehrere“ – und andere Verwandte – „er hat mal einen Bruder erwähnt“ – hätten deshalb auch schon lange den Kontakt zu ihm abgebrochen. Nur seine zweite Frau sei bei ihm geblieben, bis sie vor fünf Jahren an Diabetes starb. „Das war eine ganz Liebe.“ Holger Kallert seufzt. „Nach ihrem Tod hat Albert ganz schnell abgebaut.“
Schlosser sei er früher gewesen, glaubt Holger Kallert, aber schon seit vielen Jahren arbeitslos. Und ohne jegliche Perspektive, ohne Interessen, ohne Freunde. „Flaschen hat er gesammelt“, sagt Kallert. „Jeden Tag ist er mit dem Fahrrad los, bei Wind und Wetter. Das Geld hat er dann gleich verjubelt.“ Holger Kallert zeigt auf eine Flasche Bier. „Das war alles, so war sein Leben.“
Nur eingestanden habe er es nie: „Noch bis vor Kurzem hat Albert mir erzählt, er hätte alles im Griff. Dabei wurde ihm schon im Mai das Arbeitslosengeld gestrichen, weil er nie zum Amt gegangen ist.“ Bald konnte er die Miete nicht mehr zahlen, Strom und Gas wurden abgestellt. Albert habe seine Wohnung zugemüllt – „aber hallo!“ – deswegen habe er auch niemanden mehr reingelassen.
Als Holger Kallert von der anstehenden Zwangsräumung erfuhr, bot er Albert Unterstützung an, wollte mit ihm gemeinsam zum Sozialamt, eine neue Bleibe suchen. „Nichts zu machen, er wollte das alleine schaffen.“ Einmal sei er dann noch da gewesen, Mitte Dezember, „er hat bei mir gebadet, ich habe seine Wäsche gewaschen, dann verschwand er, seitdem habe ich gewartet, dass er wieder hier auftaucht.“ Doch Holger Kallert sah ihn damals zum letzten Mal.
„Verdammt“, bricht es plötzlich aus ihm heraus, „warum hat er sich denn bloß nicht helfen lassen?“ Dann lächelt er traurig. Er blinzelt, schaut auf den Boden, unter ihm eine Wohnung, in die niemand zurückkehrt, er braucht nicht mehr zu warten. „Er war ein richtiger Sturkopf“, sagt er. „Aber er war auch ein Mensch, oder?“
Ein fast vergessener Mensch, der in den Wochen vor seinem Tod doch noch einen Zufluchtsort fand: einen Imbiss in Altenwerder. Als Geschäftsführer Hans Pahl die Nachricht hört, dass ein Obdachloser in der Nähe tot aufgefunden wurde, fragt er entsetzt: „Etwa unser Albert?“ Er schüttelt den Kopf, kann es kaum fassen. „Albert kam jeden Tag hierher“, sagt er. Hans Pahl arbeitet nur wenige Meter vom Wanderweg entfernt, an dem Albert B. erfror. „Im Sommer habe ich ihn das erste Mal gesehen“, erinnert Hans Pahl sich. „Zwischen den LKW-Fahrern hier ist er mit seinem langen Mantel und den zerschlissenen Handschuhen schnell aufgefallen.“ Flaschen habe er gesammelt, jeden Tag, immer das Gewerbegebiet rauf und runter. „Hier war sein Revier“, erzählt Hans Pahl, und er ahnt auch, warum: „Viele Arbeiter kommen mit dem Bus und lassen nach Feierabend ihr Leergut an den Haltestellen. Außerdem hat er hier keine Konkurrenz.“
Vielleicht war Altenwerder aber auch ein Stück Heimat für Albert, vielleicht liegen hier seine Wurzeln: Auf dem Friedhof der alten Kirche steht ein Grabstein mit den Namen von Gertrud und Adolf B., von den Geburtsdaten her könnten es Alberts Eltern oder Onkel und Tante gewesen sein. „Ja, da ist er wohl öfter hingefahren“, glaubt auch Holger Kallert, „von dem Friedhof hat er mal erzählt.“
Nur fünf Minuten zu Fuß sind es von dort bis zum Imbiss von Hans Pahl. „Selbst reingetraut hat er sich nicht“, sagt er, „ich musste ihn schon bitten.“ Da war es bereits später Herbst, es war kalt und windig, der erste Schnee fiel. „Albert zitterte, kramte ein paar Münzen aus seinem Mantel und fragte, ob er dafür einen Kaffee bekommen könnte.“ Hans Pahl lächelt. „Da habe ich gesagt, lass das Geld mal ruhig stecken.“ Seitdem schaute Albert jeden Tag vorbei, immer gegen 15 Uhr, wenn wenig los war. „So hatte ich Zeit, mit ihm zu klönen“, sagt Hans Pahl, der einen ganz anderen Albert in Erinnerung hat als Holger Kallert. Denn nein, resigniert oder mürrisch sei Albert nicht gewesen, im Gegenteil. „Er war redselig, hat mir von dem Tag erzählt, als sein Fahrrad geklaut wurde und dass er sich gerade um einen neuen Job bemüht.“
Intelligent sei er gewesen, stolz, umgänglich. Äußerlich zwar verwahrlost, mit eingefallenen Wangen und ausgezehrtem Körper, „aber seine blauen Augen – immer klar, immer hellwach.“ Bescheiden sei er aufgetreten, habe höchstens mal um ein Glas Wasser gebeten. „Kaffee und Suppe musste ich ihm fast aufdrängen.“ Auch mit neuer Kleidung wollte Hans Pahl Albert helfen. „Ich sah doch, wie durchgefroren er war.“
Aber Albert fiel es schwer, etwas anzunehmen. „Er wäre auch nie in eine Obdachlosenunterkunft gegangen“, glaubt Hans Pahl, „er hätte sich wohl zu sehr geschämt. Außerdem hat er mir versichert, dass er ab Januar eine neue Wohnung hat.“ Ja, trotz seines Schicksals habe Albert positiv von der Zukunft gesprochen. „Er hat sich nicht aufgegeben“, ist Hans Pahl überzeugt, „niemals.“
Am 22. Dezember sah er Albert zum letzten Mal. „Da habe ich ihm gesagt, dass ich am nächsten Tag Kleidung und Handschuhe für ihn mitbringe.“ Hans Pahl verschwindet kurz in der Küche und holt sie, vorsichtig legt er sie auf den Tresen. „Das wären sie gewesen“, sagt er, und streicht behutsam drüber. Robuste Arbeitshandschuhe sind es, innen mit weichem Fell gefüttert. Ein guter Schutz beim Flaschensammeln, ein guter Schutz gegen Kälte. Hans Pahl schluckt. „Die halte ich jetzt in Ehren“, sagt er. „Für Albert.“
Text: Maren Albertsen
Foto: Hannah Schuh