Hamburg ist wenig vorbereitet auf die steigende Zahl von Obdachlosen, die alt und krank sind. Hoffnung verspricht das neue Konzept der „Lebensplätze“, das jetzt in Bergedorf startet.
Stella sitzt im Untergeschoss des CaFée mit Herz auf St. Pauli und sagt, sie habe erst überlegen müssen, ob sie ihre Geschichten erzählen soll. In 61 Lebensjahren hat sich eine Menge angesammelt. In ihrem Fall sehr viel Schmerzhaftes: Gewalt in der Kindheit, sexuelle Übergriffe, schwere gesundheitliche Probleme und Operationen. Schon lange arbeitet sie nicht mehr, zwar erhält sie eine kleine Erwerbsminderungsrente, doch es reicht trotzdem vorn und hinten nicht.
Vor zweieinhalb Jahren landet sie schließlich auf der Straße. Heute kennt sie jede Hamburger Hilfseinrichtung für obdachlose Menschen von innen: „Ich habe alles durch“, sagt sie und lächelt beinahe entschuldigend.
Seit sie Platte macht, geht es Stella gesundheitlich noch schlechter. „Meine Beine sind kaputt“, sagt sie. Schon mehrmals brach sie auf der Straße zusammen, vor zwei Jahren war es richtig knapp. Die Beine geschwollen, das Blut spritzte bei Berührung heraus. „Der Notarzt hat mir gesagt, das sei eine Sache zwischen Leben und Tod gewesen“, sagt sie. Sogar eine Amputation stand im Raum: Da bekam die resolute Frau dann doch Panik. Nur nicht die Beine verlieren!
Im Krankenhaus erklärte man ihr, sie dürfe nicht so lange sitzen. Wenn sich das Blut staut, drohen Entzündungen, im schlimmsten Fall Thrombosen. Stella hat noch ein anderes Problem: „Ich kann einfach nicht mehr auf dem Boden schlafen, weil ich von da nicht mehr alleine hochkomme.“
Auf die Frage, was ihr akut am meisten helfen würde, muss sie nicht lange überlegen: „Die beste Hilfe wäre, dass ich meine Beine hochlegen und mal schlafen kann. Ein sicheres Dach über dem Kopf.“ Viel Hoffnung darauf hat sie jedoch nicht. „Es gibt keinen Ort für obdachlose Frauen wie mich. Ich weiß gar nicht, ob das überhaupt jemanden von unseren Politikern interessiert“, sagt sie.
Tod auf der Straße
Maike Oberschelp, die Chefin des CaFée mit Herz, ist ebenfalls ernüchtert, wenn sie zur Situation älterer und kranker Obdachloser in der Stadt befragt wird. Im Mai starb in unmittelbarer Nähe der Einrichtung ein 51-jähriger obdachloser Rollstuhlfahrer, der Platte machen musste. Oberschelp kann den Anblick des Mannes, den sie flüchtig kannte, nicht vergessen: „Es gibt für diese Menschen in der Stadt keinen Ort, um alt zu werden“, sagt sie. Ihr Fazit klingt bitter: „Als Obdachloser wirst du in dieser Stadt auf der Straße verrecken, wenn nicht jemand zufällig vorbeikommt und einen Krankenwagen ruft.“
Obdachlos im Alter
Auch Eva Masoumi von der Bahnhofsmission beobachtet vor allem seit der Pandemie eine stärkere Verelendung ihrer Gäste. Die Menschen, die am Hauptbahnhof Hilfe suchen, werden zudem immer älter. Masoumi hat einen konkreten Vorschlag: „Es müsste in jedem Hamburger Stadtteil eine Krankenstube geben“, sagt sie. In der Krankenstube der Caritas auf St. Pauli werden akut oder chronisch kranke Obdachlose versorgt. Die 20 Betten sind jedoch ständig belegt.
Im Krankenstuben-Bericht von 2021 hält die Caritas in dürren Worten eine dramatische Entwicklung fest: „Auffällig ist, dass unsere Patient:innen immer älter werden und intensivere Betreuung und medizinische Pflege benötigen.“ Und doch landen viele nach ihrer Entlassung wieder auf der Straße.
Immerhin: Im Frühjahr/Sommer 2023 wird in den neuen Räumen der Bahnhofsmission auch eine Pflegenotfallstelle öffnen. Pflege gehört nicht zum Kerngeschäft der Bahnhofsmission. Doch man könne der zunehmenden Verelendung nicht einfach tatenlos zusehen, sagt Eva Masoumi.
Ein Platz für immer
Rund 17 Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt, in Bergedorf, sitzt Winfried Kaiser in einem kleinen Raum mit gelb getünchten Wänden und trinkt Kaffee: „Schwarz wie die Nacht muss er sein“, sagt der 75-Jährige und lacht. Er ist in der Unterkunft von Fördern & Wohnen im Achterdwars „bekannt wie ein bunter Hund“, so hatte sich der ehemalige Versicherungsangestellte vorgestellt. Sein Weg hierher: Wohnungsverlust nach einer massiven Mieterhöhung, Altenstift, Winternotprogramm, dann vor sechs Jahren Umzug hierher.
Herr Kaiser hat jetzt das, was den meisten älteren Obdachlose fehlt. Er hat einen Platz, um die Beine hochzulegen und zur Ruhe zu kommen, genauer: einen sogenannten Lebensplatz. Der 75-Jährige ist einer der ersten Bewohner, der nach einem neuen Konzept der Hamburger Wohnungslosenhilfe wohnt. Er kann hierbleiben bis zu seinem Lebensende. Er wird nicht nur mit Essen, sondern auch medizinisch und pflegerisch versorgt, wenn es einmal nötig wird.
Noch kommt er jedoch gut alleine klar, bis auf den nervigen Meniskus im linken Knie. Wenn er möchte, begleitet ihn jemand zur Bank oder zur Ärztin. Die hat hier wöchentlich Sprechstunde in der angegliederten Schwerpunktpraxis, ein Psychologe ist alle 14 Tage vor Ort. Es gibt auch einen Fußpfleger und seit Neuestem auch eine Hauswirtschaftshilfe, die zusätzlich zur Sozialstation der Diakonie für die Bewohner – alles ehemals obdach- und wohnungslose Männer mit Suchtgeschichte und/oder psychischen Beeinträchtigungen – kocht und sich kümmert.
Neues Konzept: Lebensplätze
Jörg Konow leitet die Unterkunft seit Jahresbeginn. Er ist ein ruhiger Mann mit einem freundlichen Gesicht, aber wenn er über die Aufgaben spricht, die vor ihm liegen, wird er ernst: „Die alternde Bevölkerung ist ein großes Thema, und deshalb wird es auch Zeit, dass dem Rechnung getragen wird. Es geht nicht nur um Bettenplätze, es geht um Menschen, die dahinterstehen.“ Was ist ihm am wichtigsten bei den Lebensplätzen? „Das Herzstück ist die Gewissheit, dass man zur Ruhe kommen kann. Es ist ganz wichtig, dass man weiß, wo man hingehört.“
Idealerweise in ein barrierefreies Einzelzimmer – so sieht es das Konzept vor. Doch noch stockt es beim Umbau: Baumaterialien und Handwerker:innen sind derzeit nur schwer zu bekommen. Erst 2025 werden hier wohl alle Räume saniert sein. Schon heute leben aber 30 der Lebensplatz-Bewohner in Einzelzimmern. Herr Kaiser muss sich sein 16 Quadratmeter großes Zimmer noch mit einem Mitbewohner teilen. „Der sieht am liebsten Horrorfilme im Fernsehen, und ich mag das nicht“, schimpft er. Nichtsdestotrotz: Umziehen kommt für den 75-Jährigen nicht infrage: „Neee! Hier bin ich gut versorgt. Und irgendwann … zack! Meinetwegen können sie mich hier auf dem Hof einbuddeln.“
Stella hat unterdessen mithilfe einer Sozialarbeiterin des CaFée mit Herz ein Zimmer organisiert – privat und nur vorübergehend. Aber alles ist besser, als weiter draußen zu schlafen, denn: „Wenn ich so weitermache wie bisher, ist es bald vorbei.“