Der Hamburger Europaabgeordnete und Satiriker Nico Semsrott hat seine Partei verlassen. Als Grund führt er rassistische Äußerungen des Parteivorsitzenden Martin Sonneborn an. Hinz&Kunzt hatte ihn 2020 porträtiert.
Nico Semsrott verlässt seine Partei – aufgrund des Verhaltens vom Parteivorsitzenden Martin Sonneborn. Der hatte sich auf Twitter billig über Asiat*innen lustig gemacht und eine Entschuldigung abgelehnt. „Wenn sich Menschen von seinen Postings rassistisch angegriffen fühlen, muss er nicht viel tun“, schreibt Nico Semsrott in seiner Austrittserklärung. „Es reichen Mitgefühl und der Respekt vor den Betroffenen, um das eigene Verhalten zu korrigieren.“ Er habe persönlich mehrfach mit Sonneborn das Gespräch über diesen und andere Fälle gesucht – vergeblich, so Semsrott: „Ich finde seine Reaktion auf die Kritik falsch und inakzeptabel. Das ging mir in der Vergangenheit schon in anderen Fällen so. Daraus ziehe ich jetzt meine Konsequenzen.“
Das Ende der politischen Karriere des Satirikers ist das aber wohl nicht, denn im Europaparlament will er weiterhin bleiben („Ich könnte das Leid nicht verantworten, dass ein*e Nachrücker*in statt meiner ertragen müsste.“) Ohnehin ließ sich seine Satire nie von Politik trennen, auch schon 2005 nicht: Als die Schulleitung des Hamburger Sophie-Barat-Gymnasiums seine Schülerzeitung verboten hatte, wollte der junge Redakteur das nicht auf sich sitzen lassen. Kurzerhand wandelte der 19-Jährige ein Dixi-Klo vor der Schule zum Zeitungskiosk um. Aufschrift: „Schülerzeitungsverbot? Da scheiß ich drauf!“ Von Hinz&Kunzt bis Spiegel Online berichten damals viele Medien über den „Kampf um die Pressefreiheit“ an der katholischen Privatschule, auch die Bürgerschaft befasst sich damit. „Ich hatte auch Angst, dass ich von der Schule fliege, aber es hat irre viel Spaß gemacht!“, erinnert sich Semsrott.
„Ich hatte auch Angst, dass ich von der Schule fliege, aber es hat irre viel Spaß gemacht!“, erinnert sich Semsrott.
15 Jahre später sitzt er im Europäischen Parlament in Brüssel und hält ein goldenes Schild mit der Aufschrift „Strasbourg“ in die Höhe. Als Europaabgeordneter fordert er die Umbenennung des Sitzungssaals, damit die Parlamentarier*innen nicht mehr zwölfmal im Jahr in die französische Stadt reisen müssen, wie es die EU-Regularien vorschreiben, sondern einfach im gleichnamigen Raum tagen könnten. Eine der vielen Absurditäten, um die in der EU seit Jahrzehnten Mitgliedsstaaten und Parlamentarier*innen streiten: „The second seat is a waste of money“, erklärt Semsrott. Mehr als eine halbe Milliarde Euro würde das Hin- und Herreisen pro Legislaturperiode kosten, jährlich 20.000 Tonnen CO2 verursachen. „Möge diese Sitzung der historische Moment sein, in dem das Europäische Parlament endlich aufbegehrt und die Kontrolle über sein Schicksal übernimmt!“, fordert Semsrott auf Englisch. Dazu hebt er die linke Faust.
Eigentlich hält er diese Rede nicht wirklich für den Petitionsausschuss des Europaparlaments, auch wenn er zu ihm spricht, sondern für seine Zuschauer*innen auf den Social-Media-Kanälen – allein auf Youtube wurde das Video darüber mehr als 370.000-mal angesehen. Hunderttausende für so ein trockenes Thema der Europapolitik zu interessieren, das schafft sonst niemand. Es ist der Erfolg eines neuen Politikstils, den Semsrott und sein Parteikollege Martin Sonneborn geprägt haben, die beide für die Satirepartei „Die PARTEI“ im Parlament sitzen. Auf Instagram, Twitter und Facebook folgen ihm mehr als 700.000 Menschen. Reichweiten, von denen andere Abgeordnete nur träumen können: Die Hamburger Liberale Svenja Hahn etwa kommt auf gut 8600 Follower*innen.
Aus Hamburg-Niendorf nach Brüssel
Der Weg dorthin war für Semsrott allerdings weit. Er beginnt im Hamburger Stadtteil Niendorf, in dem Nico als Lehrerkind aufwächst. „Das war so unglaublich normal“, erinnert er sich im Skype-Gespräch mit Hinz&Kunzt im Sommer 2020. Und das meint er nicht wirklich positiv: „Im Sinne von durchschnittlich, bürgerlich, weiß, privilegiert, behütet … boring eben.“ Irgendwie langweilig und ein bisschen wie jetzt im Europaparlament, legt er sarkastisch nach: „Ich bin an einem Ort, dessen Werte ich nicht teile, und ich habe die ganze Zeit Sehnsucht nach mehr Leben, Auseinandersetzung und Teilhabe.“ Eben ganz so wie damals in Niendorf.
Zum Satiriker ist er dann auf der katholischen Privatschule an der Alster geworden, sagt er, weil dort Ausgedachtes als Realität verkauft worden sei. Während in Gebeten das Gute im Menschen gepriesen wurde, hätten manche Lehrer mit Druck und Einschüchterungen gearbeitet: „Das ist genau das Spannungsfeld, in dem Komik und Satire entstehen“, meint Semsrott. Im Frontalunterricht fühlt er sich schlecht aufgehoben, mit dem autoritären Stil der Schulleitung kommt er nicht zurecht. „Ich finde es immer schrecklich, auf Befehle von anderen zu hören, ich finde es viel besser, wenn ich selbst etwas entwickeln kann“, sagt er. Zum Beispiel einen Zeitungskiosk im Dixi-Klo.
„Für mich ist es total schön, wichtig und entlastend, eine Bühne zu haben, wo der Schmerz rauskann.“
Nach der Schule klagt er sich ins Studium der Soziologie und Geschichte an der Uni Hamburg ein, nur um es nach sechs Wochen wieder abzubrechen. „Ich bin dann depressiv ins Bett gegangen und habe erst mal gar nichts gemacht“, sagt er salopp daher, meint es aber ganz ernst: Zwischen 16 und 23 war Nico Semsrott durchgehend depressiv. Daraus macht er kein Geheimnis, im Gegenteil: Er entdeckt 2008 im Hamburger Club Molotow den Poetry-Slam für sich und spricht in seinem Programm über die Krankheit, macht Witze über Depressionen. „Für mich ist es total schön, wichtig und entlastend, eine Bühne zu haben, wo der Schmerz rauskann“, sagt er. „Das hat mir total viel geholfen.“
Als depressiver Komiker wird er schließlich berühmt, der schwarze Kapuzenpullover wird zu seinem Markenzeichen. Er tritt regelmäßig in der „heuteshow“ des ZDF auf, macht immer wieder auch politisches Kabarett, zum Beispiel gegen die Leistungsgesellschaft und die AfD. Und ganz nebenbei sammelt er Hunderttausende Follower*innen auf Social Media. Bis ihm das alles zu viel wurde: „Das war zwar auch schön, aber je länger es ging, desto größer wurde der Druck und die Angst, das wieder zu verlieren“, sagt Semsrott. Die Anfrage der Partei, ob er nicht in die Politik wechseln wolle, kam daher genau zum richtigen Zeitpunkt: „Ich wusste nicht, dass ich das wollte, bevor ich gefragt wurde. Als ich gefragt wurde, hab ich gemerkt: ‚Oh, das interessiert mich wirklich!‘“
Als Realo schließt er sich der Grünen-Fraktion an
Seit 2019 ist also Brüssel die Bühne, auf der sein Schmerz rauskann. Seine Rolle als Abgeordneter muss er aber noch finden: Anders als sein (inzwischen Ex-)Genosse Sonneborn stimmt er zwar im Parlament nicht einfach abwechselnd mit Ja oder Nein, sondern hat sich der grünen Fraktion angeschlossen. Aber auch nach einem Jahr als Parlamentarier hat er die Regeln dieses neuen Spiels noch nicht ganz verstanden – was aber auch für seine Mitspieler*innen gilt. Ein Tweet von @nicosemsrott kann heute ausreichen, um eine Antwort von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu provozieren, die er so in eine Debatte über „rassismusverharmlosende Politik“ hineinziehen kann. „Das ist für mich viel spannender, intellektuell herausfordernder und relevanter als das, was ich vorher gemacht habe“, sagt Semsrott.
„Die anderen spielen ihre Rollen, die megakomisch sind, und ich spiele meine Rolle, die ich in dem Kontext eigentlich vernünftig finde.“
Aber natürlich steckt noch jede Menge vom alten Nico im neuen. Er hat auch den Kapuzenpullover nicht ausgezogen und erst recht nicht gegen einen Anzug getauscht. Auch weil er ihm Sicherheit gibt, sagt er: „Wenn ich in dem Raum meine Kapuze abnähme, würde ich mich ausgelieferter fühlen.“ Schließlich hat seine Kunstfigur zehn Jahre lang eingeübt, sich öffentlich zu äußern und zu provozieren. Dass er nur eine Rolle spielt, ist für Nico Semsrott normal. Und auch im Europarlament findet er das nicht unangemessen, im Gegenteil: „Die anderen spielen ihre Rollen, die megakomisch sind, und ich spiele meine Rolle, die ich in dem Kontext eigentlich vernünftig finde.“
Womit wir beim schwierigen Verhältnis von Nico Semsrott zur EU sind. Was bei ihm manchmal nach populistischem Bashing klingen mag, kann er mit fundamentaler Kritik unterfüttern. Und er ist vieles, aber sicher kein Anti-Europäer. Aber das Staatengebilde wird ihm zu konservativ gelenkt – und zu undemokratisch organisiert: „Wenn man sich die EU anguckt, haben die Nationalstaaten die Macht, die Kommission hat auch ein bisschen was zu sagen und das Parlament darf zu manchem noch einen Kommentar abgeben“, kritisiert er.
Um die Idee des Europaparlaments zu retten, müsste man eigentlich noch mal neu damit anfangen, findet Semsrott. „Ein Parlament, das nicht mal selbst Gesetze vorschlagen kann, ist einfach ein Witz in sich!“ Und über diesen Konstruktionsfehler kann er sich dann auch richtig aufregen. „Ich bin ja jetzt schon ein Jahr Abgeordneter und ich finde das immer noch falsch“, redet er sich in Rage. „Es ist falsch, Europawahlen abzuhalten, wenn das Parlament nicht die Repräsentation und die Macht hat, die man dem Bürger suggeriert!“ Und als Angehöriger der Opposition ist er besonders machtlos im machtlosen Parlament. Was ihn zusätzlich deprimiert: „Ich kann mit meinem Stimmenanteil von 0,14 Prozent eigentlich nur zugucken. Es gibt mittlerweile eine Diktatur innerhalb der EU, und nichts passiert“, beklagt er frustriert das Abdriften Ungarns nach ganz rechts und das Ausbleiben europäischer Reaktionen. Der Typ mit dem Kapuzenpullover in der letzten Reihe? Unter diesen Umständen nur angemessen, findet Semsrott.
Deswegen ist klassische Parlamentsarbeit seine Sache nicht. „Ich bin dafür da, zu irritieren und den Betrieb zu stören“, erzählt er und legt lachend nach: „Im ersten Jahr bin aber hauptsächlich ich irritiert und mein Betrieb ist gestört worden.“ Das Format Europaabgeordneter entwickelt er beständig weiter: Zuletzt arbeitete er mit seinem Team an einer Late-Night-Show, in der er die europäische Öffentlichkeit am Parlamentsgeschehen teilhaben lassen will. Satirisch und politisch, für die ganze Union. „Ich bin überzeugt davon, dass Demokratie nicht ohne Öffentlichkeit funktionieren kann“, sagt er. „Es ist meine Aufgabe, die herzustellen und für Diskussionen zu sorgen.“
Nico tritt aus der Partei aus – bleibt aber in Brüssel
Seine Angst vorm Scheitern wird Semsrott auch weiterhin im Europaparlament begleiten – auch ohne „PARTEI“-Mitgliedschaft: „Ich spüre den Auftrag total, für die 900.000 Wähler da was rauszuholen“, offenbarte er im Sommer 2020. „Mich quält die ganze Zeit die Frage: Mache ich genug daraus?“ Dabei kann er an seinem Anspruch, mit dem er 2019 zur Wahl angetreten war, eigentlich kaum scheitern. Sein Slogan lautete bloß: Für Europa reicht’s.