20 Jahre Hinz&Kunzt : Ans Elend gewöhnen? Nicht mit uns!

Man wächst mit seinen Aufgaben: Mit 30 Verkäufern sind wir an den Start gegangen. Heute verkaufen 500 Hinz&Künztler aus 16 Ländern das Straßenmagazin. Sie alle bringen ihre Probleme mit, und das bedeutet: Wir müssen uns immer wieder auf neue Themen einstellen.

(aus Hinz&Kunzt 245/Juli 2013)

250 junge Menschen lebten im  Februar 2008 in Notunterkünften für Erwachsene.
250 junge Menschen lebten im
Februar 2008 in Notunterkünften für Erwachsene.

Klein und naiv – so waren wir, als wir an den Start gingen. Wir waren überzeugt, uns schnell überflüssig zu machen. Denn das Thema Obdachlosigkeit in Hamburg, von uns so offensiv angegangen, würde sich bald erledigen. Wir haben nicht geahnt, was auf uns zukommen würde. 30 Verkäufer hatten wir 1993, heute verkaufen 500 Hinz&Künztler aus 16 Ländern das Magazin. 6000 Ausweise haben wir ausgestellt. Aber nicht nur die Zahl der Verkäufer ist stetig gewachsen. Es sind auch immer neue gesellschaftliche Probleme aufgetaucht, auf die das gesamte Team – vom Vertrieb über die Sozialarbeit bis hin zur Redaktion – bis heute reagieren muss.

Zuerst waren die meisten Hinz&Künztler deutsche Männer, viele kamen aus der ehemaligen DDR. Oft hatten sie ­Alkoholprobleme oder eine Trennung hinter sich. Immer hatten sie ihren Job verloren. Denn etliche Firmen in der Ex-DDR waren pleitegegangen oder mussten Personal abbauen.

Als Nächstes stießen Drogenabhängige zu uns. Für sie war der Hinz&Kunzt-Verkauf oft die erste „richtige“ und legale Arbeit, die sie davor bewahrte, anschaffen gehen zu müssen oder sich auf kriminellen Wegen Geld zu beschaffen. Vielen gelang dadurch nach und nach der Ausstieg aus der Sucht.

Im Zuge der EU-Erweiterung schließlich strandeten immer mehr Polen auf der Straße. Eigentlich wollten sie hier arbeiten, aber wegen der Übergangsbestimmungen durften sie viele Jobs nicht machen. Nach Polen zurückzukehren war ­keine Option: Ein Sozialsystem gab es dort damals nicht.

2005 wurden die Hartz-IV-Reformen umgesetzt. Nicht alle jungen Leute kamen mit den Anforderungen zurecht. Wer die Stütze gestrichen bekam, landete im Extremfall sogar auf der Straße. Obdachose Jugendliche – das schockte uns und die alteingesessenen Hinz&Künztler. Zumal einige der jungen Mädchen schwanger wurden. Kinder ohne Perspektive, die wieder Kinder bekommen – wo sollte das hinführen?

Dass es wieder „Wanderarbeiter“ geben würde, damit hatten wir nicht gerechnet. Den Begriff kannten wir nur aus dem Geschichtsbuch. Dass die Rumänen und Bulgaren nun genauso ausgebeutet werden wie die Menschen von einst, ist erschütternd. Und kaum, dass wir versuchen auf diese neuen Herausforderungen zu reagieren, stehen die Afrikaner vor unserer Tür, die gerade zum Spielball zwischen Hamburg und Italien wurden. Im Winter schliefen die Flüchtlinge im Winternotprogramm in der Spaldingstraße. Tagsüber kamen sie zu uns, um sich wenigstens kurz aufzuwärmen.

Sie sehen: Bei Hinz&Kunzt zu arbeiten heißt, die Welt von unten kennenzulernen. Und das bedeutet: Wir müssen uns immer wieder auf neue Themen und Menschen einstellen, immer wieder dazulernen. Zum Glück haben wir uns in all den Jahren nicht an das Elend auf der Straße gewöhnt. Wichtig ist, dass wir uns auch unsere Empörung und Hart­näckigkeit erhalten. Nur so können wir etwas bewirken.

Text: Birgit Müller, Stephan Karrenbauer
Titelbild: Mauricio Bustamante