Drei Geschichten über einen Neubeginn
(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)
Alles auf Sieg
„Es geht um den Erfolg“, sagt Torwart Heinz Müller, „wer auf dem Platz sportlich erfolgreich ist, der verdient irgendwann auch gutes Geld.“ Wenn der 24-jährige Fußballprofi von seinem Neustart beim Zweitligisten FC St. Pauli spricht, dann versucht er zunächst, Gefühle zu unterdrücken. So sei halt das Business, sagt der Torwart.
In der Winterpause war er vom Bundesligisten Arminia Bielefeld an das Millerntor gewechselt zum scheinbar hoffnungslos abgeschlagenen Tabellenletzten der 2. Liga. In Bielefeld saß er nur auf der Bank oder Tribüne. „Bei Pauli habe ich die Chance zu beweisen, was ich kann.“ Deshalb, so Müller, sei es für ihn keine Frage und eine rational begründete Entscheidung gewesen, den Wechsel zu wagen. Obwohl manche Beobachter befürchteten, auch mit dem neuen sportlichen Umfeld gebe es für ihn keinerlei Aussicht auf Erfolg.
Dass die Mannschaft in der Rückserie zunächst hoffnungsvoll begonnen hatte, galt unter anderem als Erfolg des neuen Torwarts. Mittlerweile steckt das Team nach dem glücklichen Neustart wieder tief in der sportlichen Krise. Der Abstieg ist nahe – trotz der Leistung des Keepers. Die Fans und die Presse haben ihn schnell in ihr Herz geschlossen. Und der Torwart sagt: „Das war schon richtig, diese Veränderung zu wagen.“ Bis auf weiteres: Zumindest der Start ist geglückt.
Im Leben privat oder beruflich neu zu starten, mag von außen betrachtet manchmal wie ein dramatischer Schritt erscheinen. Das Eintauchen in Neues soll helfen, eine zunehmend als untragbar empfundene Last zu überwinden. „Man muss im Leben sehen, dass man durchkommt, darf nicht den Glauben an sich selbst verlieren“, sagt Torwart Müller nüchtern. Und: „Gerade als junger Spieler wird man oft einfach ins kalte Wasser geworfen.“ Das, so meint er, sei auch ein großer Reiz an der neuen Aufgabe beim FC St. Pauli – gemeinsam dafür kämpfen, nicht unterzugehen.
Ein Neustart also für ihn ausschließlich unter sportlichen Gesichtspunkten? Nein, antwortet der junge Profi, „das ist Stress vor allem für die Seele.“ Seine Freundin ist vorerst in Bielefeld geblieben, beendet dort ihre Ausbildung, und in Hamburg hat er privat noch keine neuen Freunde. „Ich spiele Fußball“, sagt Müller, „und im Fußball gibt es keine Freunde, das ist hartes Geschäft.“ Heute bist du der König, fügt er noch hinzu, und vielleicht schon morgen bloß noch der Depp. Im Augenblick gehört ihm die Krone.
Annette Bitter
Die große Freiheit
„Das ist super, bombig, klasse!“, freut sich Kai. Der 30-jährige Hinz & Kunzt-Verkäufer ist vor zwei Wochen in seine neue Wohnung gezogen. Ein Zimmer, Küche, Balkon – für ihn allein. Als Neustart will er das Ende seiner Wohnungslosigkeit zwar nicht verstanden wissen. „Ich werde wohl nicht die nächsten 20 Jahre darüber reden.“ Aber klar, der Gegensatz zu seiner Einzelzelle im Knast, zum Leben auf Platte und zu seiner letzten Unterkunft in einem Hotel am Nobistor ist gigantisch.
„In meiner Wohnung habe ich meine Ruhe. Hier gibts keine Kakerlaken. Ich kann aufs Klo gehen, ohne Angst, mir irgendwas wegzuholen. Ich hab ’ne Küche, in der ich mir jeden Tag was koche, und es ist mein Ding, ob die sauber ist oder nicht.“ Die Wohnung hat eine große Fensterfront, sagt Kai, da kommt viel Licht rein, so dass er sich nicht eingesperrt fühlt. Einen tollen Nachbarn habe er außerdem.
Einen echten Neustart plant Kai trotzdem – und mit der Wohnung ist der Grundstein für sein Vorhaben gelegt: „Wenn du 30 bist, fängst du was Richtiges an mit deinem Leben, habe ich mir geschworen.“ Nun ist es soweit. Beim Berufsinformationszentrum war er schon. Jetzt will er sein Fachabitur Sozialpädagogik machen. Ein Jahr wird er dafür brauchen und danach – man kann ja schon mal träumen – vielleicht Sozialpädagogik studieren. „In so ’nem Berberheim ist es immer laut, da kommt man nicht mal zum Pennen“, sagt Kai. „Wie soll man da arbeiten oder lernen?“
Kai meint, dass er schon lange sein Abitur hätte machen können, und auch sein Studium hätten ihm die Eltern finanziert. „Ich bin nämlich ein verdammtes Bonzenbalg“, sagt er und grinst. Aber dann war ihm das Kiffen wichtiger als Schule oder Uni. „Jetzt will ich mir was Neues aufbauen“, sagt er ernst. Und damit nichts dazwischenkommt, soll kein Foto von ihm in der Zeitung erscheinen. „Es müssen ja nicht gleich alle wissen, was der neue Typ da in der Wohnung für ’ne Geschichte hat.“
Annette Bitter
Ende eines Traums
„Noch nie war ich den Wurzeln der Unterhaltungskultur so nah“, sagt Ulrich Waller über seinen Neustart als künstlerischer Leiter des St. Pauli Theaters. Es werde es keine „Kammerspiele im Exil“ geben, sondern einen eigenen, „dem Ort angemessenen Umgang mit den Formen des Unterhaltungs- und Volkstheaters“. Gerade weil rund um die Reeperbahn so viel geboten wird, wolle er mit anspruchsvollen eigenen Produktionen ein neues Publikum „auf die Meile führen und verführen“.
Das klingt euphorisch und lässt fast vergessen, dass Waller die Kammerspiele nicht freiwillig verließ. Doch, da sei auch Wehmut, schließlich seien die Kammerspiele „ein Traum“ gewesen. „Man lässt dieses Haus mit seiner 85-jährigen Tradition zurück und weiß es nicht wirklich in guten Händen.“
Da ist noch immer die Wut zu hören, die ihn wohl auch zu seinem Neustart getrieben hat. Denn der kampferprobte Theatermann ist kein Typ für Dauerklagen. Seine Einschätzung, „dass man sich auch zu Tode verhandeln könne“, sieht er dadurch bestätigt, dass selbst der kompromissbereite Dominique Horwitz am Ende aufgegeben habe. Da versucht Waller doch lieber auf seine Weise zu retten, was zu retten ist. Die Menschen, die zum Erfolg der Kammerspiele beigetragen haben, sollen möglichst auch auf St. Pauli eine neue Heimat finden: „Ich werde versuchen, meine Familie mitzunehmen!“
Ungemütlich findet er vor allem die finanzielle Unsicherheit seiner neuen Arbeit. Anders als die Kammerspiele muss das St. Pauli Theater bisher ohne Subventionen auskommen. So gesehen, ist das Wasser sehr kalt, in das er springt. „Da kann man nur hoffen, dass man schnell wieder spürt, dass man schwimmen kann!“, sagt er tapfer und gibt dann selbst vor, an was er sich zukünftig wird messen lassen: „Wenn es Thomas Collien und mir gelingt, auch das St. Pauli Theater zu einem charismatischen Ort zu machen, das wäre mein größtes Glück.“