Hinz&Kunzt-Verkäufer Motte starb, wie er gelebt hat: mitten in der Innenstadt, unter den Augen Tausender Passanten – denen es schwer fiel hinzuschauen
(aus Hinz&Kunzt 177/November 2007)
Vergangenen Monat starb Hinz&Kunzt-Verkäufer Manfred Bödner an seinem Stammplatz in der Innenstadt. Für Freunde war kaum zu ertragen, dass sich der 58-Jährige, den alle Motte nannten, nicht helfen lassen wollte.
Der Korn trifft auf den Asphalt. Ein paar Spritzer Hochprozentiges verlaufen auf der Mönckebergstraße. Der erste Schluck aus jeder neuen Flasche wird geopfert. „Für die von uns, die tot sind“, erklärt Motte. Es ist September, Motte liegt gemeinsam mit seinem Freund Hotte vor C&A. Zwei gebrechliche Männer in Schlafsäcken, die vor Schmutz starren, umgeben von ein paar Habseligkeiten in Penny-Tüten. Ein Bild, das seit Jahren zur Mönckebergstraße gehört. An das sich die Passanten fast schon gewöhnt haben.
Einen Monat später stirbt Motte. Jemand ruft noch einen Krankenwagen, aber schon die Fahrt ins Krankenhaus überlebt er wohl nicht. Todesursache ist eine Bronchitis. Eigentlich eine Kleinigkeit, mit Medikamenten leicht in den Griff zu kriegen. Für Motte war sie zu viel, für den Mittfünfziger mit dem Körper eines alten Mannes. Die Zähne ausgefallen. Keine Haare mehr auf dem Kopf. Der jeden Tag zusammengesunken in seinem Rollstuhl saß.
Mottes öffentliches Sterben auf der Mönckebergstraße zog sich über Monate hin. „Ich bin nicht mehr hingegangen. Das konnte ich mir nicht ansehen“, sagt Spinne. Der Hinz&Kunzt-Mitarbeiter hat selber jahrelang Platte gemacht. Der Mann mit dem Vollbart und Tätowierungen im Gesicht ist eine Autorität auf der Straße. Und sicher nicht zart besaitet. Aber Motte und Hotte, das fand auch er zu hart: „Da hab ich Wut gekriegt, wenn ich gesehen habe, wie die nichts mehr wollten“, sagt Spinne. Andere Bekannte von Motte sehen das anders. „Der ist
so gestorben, wie er es sich gewünscht hat. In der Stadt. Da wo er gelebt hat“, sagt Hinz&Kunzt-Verkäufer Kucki.
Manfred Bödner, von allen Motte genannt. Seit 1999 Hinz&Kunzt-Verkäufer. Seither fast immer in der Innenstadt. Da, wo ihn jeder sieht. Aber wie er wirklich gelebt hat, lässt sich schwer sagen. Einfacher ist zu erklären, wie Motte sein Leben sehen wollte: „Ich telefoniere oft mit meinen beiden erwachsenen Töchtern in Berlin“, erzählte er gerne. „Die wissen nicht, dass ich auf der Straße lebe. Ich will keine Hilfe.“ Ob das stimmt oder nur ein Wunschtraum war, lässt sich nicht mehr sagen. Spinne glaubt nicht daran: „Der hat keine Kinder gehabt. Wenn er nach Berlin gefahren ist, hat er da genauso Platte gemacht wie in Hamburg.“ In Hamburg lebte wohl noch eine Schwester – manchmal durfte Motte bei ihr übernachten. Motte stammt aus Berlin. „Friedrichshain, tiefster Osten“, wie er selbst sagte. Einige Zeit muss er da gut gelebt haben. Er arbeitete als Kellner in einem besseren Hotel. Aber getrunken hat er da wohl auch schon. Aus seinem Alkoholismus machte er nie einen Hehl: „Das hat auch nichts mit dem Leben auf der Straße zu tun“, betonte Motte, „ich habe schon gesoffen, als ich noch Arbeit hatte.“
Eine Reihe von Schicksalsschlägen mag ihn aus der Bahn geworfen haben. Motte war Witwer, vielleicht kam er nie über den Tod seiner Frau weg. Bei einem Wohnungsbrand kann er sich nur durch einen Sprung aus dem Fenster retten. Als ihm später alle Haare ausfallen und nie wieder nachwachsen, führen das die Ärzte auf dieses Trauma zurück. Nach der Wende findet Motte keine Arbeit, strandet in Hamburg. Erklärungsversuche, warum einem Menschen nichts anderes bleibt, als sich öffentlich totzusaufen. Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer:
„Alle, die in der Innenstadt mit Obdachlosen arbeiten, haben regelmäßig über ihn gesprochen.“ Am Ende ging es nur noch darum, sich den Frust von der Seele zu reden: „Das ist schwer zu ertragen, jemandem keine Perspektive anbieten zu können, weil er jede Hilfe ablehnt.“ Jemandem, der sich nur noch wäscht, wenn man ihn darum bittet. Das Leben auf Platte war etwas, das Motte gerne verklärt darstellte: „Damit kann man sich arrangieren.“
Wichtig sei es nur, gut ausgestattet zu sein: „Was ich alles in meinem Seesack habe! Einen richtigen kleinen Haushalt, mit zwei Gaskochern, Töpfen und einem großen Messerset.“ Der gelernte Koch bewirtete seine Freunde auf Platte: „Im Winter muss man was Warmes im Bauch haben.“
In den letzten Jahren wird es nicht mehr so romantisch gewesen sein. Denn Motte und Hotte vor C&A – das war auch die Notgemeinschaft der Übriggebliebenen. Von der Gruppe, die einst in der Innenstadt Platte machte, war sonst keiner mehr da. Alle anderen hatten eine Wohnung, waren weg aus Hamburg – oder tot. Nur Motte und Hotte blieben zurück. Und bauten immer weiter ab. „Früher war das ja noch nicht so, dass er sich den Korn so reingeschüttet hat“, sagt Spinne. Es sieht sogar mal aus, als würde es auch Motte von der Straße weg schaffen. Er bekommt eine Wohnung. Zurecht kommt er da nicht. Mit seinem großen Herz lässt er jeden Kumpel von der Straße bei sich übernachten. Schnell verliert er die Wohnung. Wann sich Motte endgültig aufgegeben hat, ist nicht klar. Vor einem Jahr wird er übel zusammengeschlagen. Ein junger Obdachloser lässt seine Wut an dem gebrechlichen Mann aus. Tritt auf Mottes Gesicht ein. Motte will nicht mal Anzeige erstatten: „Ich lebe ja noch.“ Gegen den Rat der Ärzte geht er schnell zurück an seinen Platz vor C&A. Was tun mit jemandem, der selbst mit
schweren Verletzungen nicht im Krankenhaus bleibt? Früher lud Spinne Motte zu sich nach Hause ein, damit er baden konnte. Half ihm aus den Kleidern. Wegen der gemeinsamen Jahre auf der Straße. „Am Ende wollte er auch das nicht mehr.“
Hotte lebt das alte Leben vor C&A weiter. Wenn er morgens aus dem Schlafsack kriecht, zittert er. Nicht wegen der Kälte, sondern weil sein Körper so sehr an den Korn gewöhnt ist, dass er schon nach wenigen Stunden Schlaf ohne Alkohol fast kollabiert. Der erste Schluck aus der Flasche geht weiter an die Toten. „Motte war ein feiner Kerl“, sagt Hotte. Dann weint er.
Text: Marc-André Rüssau
Foto: Jörg Worms