Selbstbestimmt leben und die Welt entdecken – für Stefan ist das wichtiger als ein festes Zuhause. Doch bei Verdrängung und Wohnungsnot hört für ihn der Spaß auf.
Ich will kein Mitleid.“ Das stellt Stefan gleich klar. Niemand soll ihn bedauern, weil er auf der Straße lebt. Weil er einen Rollstuhl braucht. Weil ihm nicht mehr viel Lebenszeit bleibt. „Ist alles gut“, sagt er und lächelt gelassen. Lieber erzählt er vom Goldschürfen am Amazonas, von seinem Trip per Anhalter durch die USA oder dem Occupy-Camp in Amsterdam – als hätte sich ein Abenteurer wie er die Extraportion Leben schon längst gesichert.
Stefans Geschichte beginnt in der Wedemark bei Hannover. Eine schöne Kindheit, sagt er. Wohlbehütet. Etwas zu wohlbehütet für seinen Geschmack. Die Söhne traten in die Fußstapfen der Väter, man heiratete, baute oder kaufte ein Haus. „Die waren alle vorprogrammiert“, meint Stefan. Als Sohn eines Bäckers und Konditors schien auch sein Werdegang klar. „Mein Vater hatte die Lehrstelle schon auf dem Sportplatz mit Handschlag für mich vereinbart.“ Schließlich wurde er Koch, absolvierte die Lehre und den Bund. Danach änderte sich alles: Mit 19 Jahren packte Stefan seine Sachen und ging auf Reisen. „Es wurde auch Zeit.“
Einen Ort, der ihn binden könnte, hat er seitdem nicht mehr gefunden. Er hat wohl auch keinen gesucht. Daumen raushalten an der Straße, schräge Typen und tolle Frauen kennenlernen, jobben für das nächste Flugticket – so schildert Stefan sein Leben. „Ich war noch nie für das Einfache zu haben“, sagt er und setzt selbstbewusst hinzu: „Das war mir irgendwie zu simpel.“
Per Anhalter durch die USA
Als erstes Thailand, da ging es nach dem Job in der Küche gleich an den Strand. Später dann per Anhalter durch die USA. Eine Affäre in Las Vegas, eine Nacht allein in der Bronx. „Es waren schon schräge Nummern dabei“, sagt Stefan. „Aber sie waren alle lustig.“ Er erzählt vom Goldschürfen in den Nebenflüssen des Amazonas – „in Neoprenanzügen“, erklärt er, „wegen der Piranhas“. Er lächelt breit. Reich wurde er nicht. Aber wenigstens sprang eine Story dabei raus. Und ein bisschen Geld für die Reisekasse.
Pure Neugier trieb Stefan durch die Welt. Als er von Gran Canaria aus nach Amsterdam aufbrechen wollte und am Flughafen eine nette Britin traf, buchte er spontan um und flog nach London. Eine andere hielt ihn schließlich sechs Jahre in der Stadt. „Sue“, sagt Stefan und lächelt verträumt. „Die hätte es vielleicht sein können.“ Eine für immer – doch Sue hatte schon ein anderes Leben. Und Stefan hatte noch Amsterdam auf seiner Liste. 2011 kam er dort an, als die Occupy-Bewegung den Börsenplatz blockierte. Stefan erzählt von 90 Tagen und 90 Nächten im Camp, „Kraker“-Szene und Besetzung des protzigen Shell-Turms. „Es ging uns darum, den Mächtigen mal kräftig vors Schienbein zu treten“, sagt er. Wenn es um Wohnungsnot geht, kann Stefan immer noch richtig wütend werden. „Die Menschen mit wenig Geld werden verdrängt, das soziale Netz der Nachbarschaft gibt es gar nicht mehr. Das ist nicht okay, da muss man was tun.“
Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr
Häuser besetzen kann Stefan nicht mehr. Schon vor den Aktionen in Amsterdam zog er sich eine Rückenverletzung zu, kurze Zeit später streikte sein Herz. Heute weiß er, dass seine Arterien nach und nach dicht machen. Viel Zeit wird er nicht mehr haben. Seitdem ist er mit dem Rollstuhl unterwegs, lässt es ruhiger angehen und verkauft Hinz&Kunzt in der Innenstadt, wie damals in London schon „The Big Issue“ oder die „Z!“ in Amsterdam.
Er macht Platte, weil er nicht um Hilfe konkurrieren will, sagt er – und weil er Leben um sich herum braucht. „Bevor ich stumpf rumsitze und nur noch alleine bin, bleibe ich lieber draußen.“ Das Leben im Provisorium kennt er. Nur ein Gedanke wurmt ihn: Dass Passanten denken könnten, er hätte sich den Rollstuhl nur zugelegt, um Mitleid zu erregen. „Wenn ich mir so ein Ding kaufen könnte“, sagt Stefan und grinst wieder, „dann würde ich eher einen Bus nehmen und damit durch Afrika fahren.“