Hinz&Kunzt-Verkäuferin Agata

Eine Wohnung als Rettungsanker

Kann endlich zur Ruhe kommen: Hinz&Künztlerin Agata. Foto: Mauricio Bustamante
Kann endlich zur Ruhe kommen: Hinz&Künztlerin Agata. Foto: Mauricio Bustamante
Kann endlich zur Ruhe kommen: Hinz&Künztlerin Agata. Foto: Mauricio Bustamante

Agata, 53, verkauft Hinz&Kunzt vor Tjadens in der Fruchtallee.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Die Hoffnung auf eine eigene Wohnung hatte Agata längst aufgegeben. Sie war froh, zumindest im Winter nicht mehr draußen schlafen zu müssen. Über die Diakonie hatte sie mit ihrem Freund einen Platz in einem Wohncontainer auf dem Gelände einer Kirchengemeinde erhalten. Als die Winternothilfe im Frühjahr abgebaut wurde, kehrten sie zurück auf die Straße. „Normal“, wie Agata sagt.

Doch jetzt ist alles anders. Die Hitzewelle Mitte August erlebte die gebürtige Polin nicht mehr im Zelt, sondern bei einem leichten Windzug durch das Fenster im eigenen Bett. In einer Wohnung, zu der sie selbst den Schlüssel besitzt und den sie nicht mehr abgeben muss, weil ein Hilfsprogramm endet. Ihre Wohnung ist das ungewöhnliche Angebot einer Hinz&Kunzt-Leserin: Sie habe eine leer stehende Wohnung im Hamburger Nordosten, in der sie gerne Menschen wohnen lassen würde, die sonst keine Chance auf eine Bleibe haben.

Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Isabel Kohler war kurz baff, dann hatte sie gleich zwei passende Kandidat:innen vor Augen: Agata und ihren Freund. Der ebenfalls aus Polen stammende Obdachlose hatte schon einmal den Weg von der Straße in eine Wohnung geschafft. Dann aber warfen ihn vor drei Jahren mehrere Schicksalsschläge wieder aus der Bahn. Er verlor alles und gab sich wieder dem Alkohol hin – zusammen mit Agata, die zu dem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren auf der Straße lebte.

Fast ein Viertel ihres Lebens hat die 53-Jährige inzwischen in Hamburg verbracht, trotzdem spricht sie kein Deutsch. Sie habe sich viel in der polnischen Community bewegt, erzählt sie mithilfe eines Dolmetschers. Es waren Kreise, in denen viel Alkohol getrunken wurde. Die meisten ihrer Bekannten waren obdachlos. Mit Betteln hielt sie sich über Wasser. Sie spricht leise, macht viele Pausen und scheint nach den richtigen Worten zu suchen.

Kurz und knapp erzählt sie von früher. Wie sie in einfachen Verhältnissen, unweit der deutsch-polnischen Grenze, in der Nähe von Stettin aufwuchs. Dass sie als Putzfrau arbeitete, einen Mann fand und zwei Kinder mit ihm bekam. Sie macht eine Pause. Dann sagt sie, dass ihr Mann sie geschlagen habe. Viele Jahre. Sie habe damals angefangen zu trinken. Mit knapp 40 Jahren nahm sie Reißaus vor der Gewalt und landete mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in Hamburg. Die Hoffnung erfüllte sich nicht. Vielmehr setzten ihr das Leben auf der Straße und der jahrelange Alkoholkonsum zu.

Deswegen setzt Sozialarbeiterin Kohler umso mehr auf die neue Wohnung als Ort der Genesung für Agata. Die Grundsteine sind zumindest gelegt: Gemeinsam haben sie und ihr Freund bereits vor mehreren Wochen dem harten Alkohol abgeschworen. Und ihr Freund, der Deutsch spricht und schreiben kann, hat den notwendigen Papierkram für die Wohnung übernommen. Die Mietkosten übernimmt Hinz&Kunzt. Peu à peu wird dann das Paar dafür aufkommen. Agata freut sich jetzt erst mal darauf, in der Wohnung endlich Ruhe zu finden und Kraft zu sammeln.

Artikel aus der Ausgabe:

Guten Appetit!

Wie der Klimawandel dem Obstanbau schadet – ein Besuch im Alten Land. Außerdem im Schwerpunkt Landwirtschaft: Wie Saisonarbeitskräfte ausgebeutet werden und wie Indigene in Kolumbien gegen Drogenkartelle kämpfen – mit dem Anbau von Kaffee.

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Autor:in
Jonas Füllner
Jonas Füllner
Studium der Germanistik und Sozialwissenschaft an der Universität Hamburg. Seit 2013 bei Hinz&Kunzt - erst als Volontär und inzwischen als angestellter Redakteur.