Hinz&Künztler Miroslaw

Der Deal mit der Sucht

Foto: Mauricio Bustamante
Foto: Mauricio Bustamante
Foto: Mauricio Bustamante

Miroslaw, 62, verkauft Hinz&Kunzt vor Lidl am Borgweg.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

„Ich bin jetzt Einzelgänger“, sagt Miroslaw mit tiefer Stimme. Für gewöhnlich lächelt der 62-Jährige charmant. Doch jetzt füllen sich seine blauen Augen mit Tränen. „Meine Freundin ist gestorben“, sagt er. Fast sein halbes Leben lang lebte er auf der Straße. Lange schlief er in der Innenstadt vor Saturn. In der Zeit hat er viele Freund:innen sterben sehen. Er wischt sich die Tränen von der Wange. „Das geht so schnell. Das macht der Alkohol.“ Er schüttelt den Kopf. „Ich ertrage das nicht mehr.“ Deshalb habe er nun beschlossen, niemanden mehr nah an sich heranzulassen.

Der Alkohol hat auch in seinem Leben viel kaputt gemacht. Viele Jahre hat er im Hamburger Hafen gearbeitet. Nachts putzte er Schiffe, tagsüber schlief er. Um diesem einsamen Trott zu entfliehen, trank er immer häufiger – und bald jeden Tag. Wegen seiner Sucht verlor er den Job und damit auch sein Zimmer in einer Arbeiterpension. Mit gerade einmal 30 Jahren wurde Miroslaw obdachlos. „Kein Zuhause, keine Zukunft, nur Alkohol“, fasst er zusammen.

Der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören, begleitete ihn. „Er wurde größer, je mehr ich gesehen habe, was Alkohol anrichtet“, sagt er. Vor vier Jahren zog er die Reißleine. „Ich war völlig kaputt, bekam nichts mehr hin und konnte nur noch mit Rollator laufen – obwohl ich nicht alt war.“ Mithilfe von Sozialarbeitenden zog er in eine Therapieeinrichtung. In dieser Zeit fand er einen Job. Doch vor einem Jahr griff er nach einem Streit mit dem Chef zum Wodka. „Dann war wieder Schluss: keine Arbeit, keine Wohnung, zurück auf die Straße.“ Geknickt wendet er den Blick ab.

Der Tod seiner Freundin vor wenigen Monaten hat ihn erschüttert. „Miro, habe ich zu mir gesagt: Willst du auch so enden? Nein, habe ich gesagt. Das kannst du nicht machen.“ Dann machte er seiner Sucht eine Ansage: „Wir machen einen Deal. Ich stelle dich nicht ganz ab, aber du bringst mich auch nicht ganz runter.“ Er nickt ernst. „So kommen wir klar.“ Jetzt trinke er statt Wodka vier Bier am Tag. Ganz von der Sucht weg kommt er nicht. Aber er meint es ernst. Er will sie in den Griff bekommen.

Nachdem er viele Jahre nicht mehr Hinz&Kunzt verkauft hatte, kam er vor einigen Monaten zum Projekt zurück. „Eine gute Entscheidung“, sagt er und lässt sein charmantes Lächeln sehen. Der Verkauf gibt ihm Stabilität, und die Gespräche lenken ihn ab von Trauer und Suchtdruck. „Ich glaube, meine Kunden mögen mich.“ Und noch etwas wird ihn stützen: Bald zieht er in eine Wohngemeinschaft im Hinz&Kunzt-Haus. „Endlich ist Schluss mit der Straße“, sagt Miroslaw. „Dann kann ich morgens aufstehen, meine Tasche voller Hinz&Kunzt nehmen, zu meinen Kunden fahren und mich abends ins Bett legen – allein.“

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 381

Von der Straße auf die Bühne

Xenia Brandt war obdachlos – heute ist sie Comedian und verarbeitet so ihre Erfahrungen. Außerdem im Schwerpunkt über obdachlose Frauen: Wie Periodenarmut zu psychischen Problemen führt. Und: Hinz&Künztlerin Annie erzählt über Gewalt und Erniedrigung auf der Straße.

Ausgabe ansehen
Autor:in
Luca Wiggers
Luca Wiggers
1999 in Hannover geboren, hat dort Germanistik und Anglistik studiert und ist Anfang 2022 nach Hamburg gezogen. Seit Juni 2023 Volontärin bei Hinz&Kunzt.

Weitere Artikel zum Thema