Jahrelang schlief Konstantin Kliesch auf Sofas von Freund:innen oder auf der Straße und verkaufte Hinz&Kunzt. Heute ist der 50-Jährige Raumausstattermeister und hat eine eigene Werkstatt.
Die erste Bahn ist für den Reißverschluss“, sagt Raumausstattermeister Konstantin Kliesch und schiebt den weihnachtlichen Hirschstoff unter den Fuß seiner Nähmaschine. Ihr Surren mischt sich mit der Jazzmusik, die durch die Werkstatt in Rothenburgsort klingt. „Nähen musste ich viel üben“, sagt der 50-Jährige, während er konzentriert die Stoffseiten aufeinander hält. Stolz fügt er hinzu: „Aber jetzt kann ich’s.“ Er schneidet den Faden ab und präsentiert den Kissenbezug. „Et voilà!“ Stolz tätschelt Konstantin seine Nähmaschine. Das breite Grinsen auf seinem Gesicht verschwindet nur selten.
Zum Beispiel dann, wenn er von früher erzählt und sagt: „Viele der alten Rebellen von damals sind schon gestorben.“ Mit „damals“ meint er die 1990er-Jahre, in denen er sich einer Gruppe anschloss, die ein Haus in der Sternstraße besetzte. Nach dem Realschulabschluss hatte Konstantin auf der Schanze das wilde Leben gesucht. Er grinst: „Und gefunden.“
„Erst als ich clean war, wurde ich wirklich zum Künstler.“
Konstantin Kliesch
Eine Ausbildung hat er nie gemacht. Schon immer hat er sich als Künstler gesehen. Er habe oft gemalt, aber „meistens nur vom Wein beduselt geredet, anstatt zu machen“. Er flüchtete sich in den Rausch, machte viel Party, griff zu Alkohol und Drogen. Heute weiß er: „Erst als ich clean war, wurde ich wirklich zum Künstler.“
Als das Haus in der Sternstraße abgerissen wurde, hangelte er sich von Couch zu Couch. Wenn er nicht bei Freund:innen unterkommen konnte, musste er auf der Straße schlafen. „Diese Zeit war hart“, sagt er.
Zum Straßenmagazin kam er 1996. „An vielen Tagen war Hinz&Kunzt mein Anker, durch den ich mir ein bisschen Geld erarbeiten konnte.“ Wenn er sonntags auf dem Fischmarkt verkaufte, habe ihn das abgelenkt von seinen Problemen. Heute hängt ein großes Bild in Konstantins Werkstatt, das er vor ein paar Jahren gemalt hat. Es zeigt ihn als Hinz&Kunzt-Verkäufer am Elbufer. An den gemalten Konstantin hat er seinen alten Verkaufsausweis geklebt. „Alle Menschen, die Hinz&Kunzt verkaufen, beweisen, dass sie rauskommen wollen aus ihrer Misere“, sagt er und zeigt auf sein Bild. „Ich war einer von ihnen.“
Als 35-Jähriger habe er viele Wochen im Winternotprogramm verbracht. Dort half ihm eine Sozialarbeiterin, in eine Obdachlosenunterkunft zu ziehen. Bald entschied er sich, einen Entzug zu machen. „Das war der wichtigste Wendepunkt in meinem Leben“, sagt Konstantin heute. Weil er da losgekommen sei vom Alkohol. „Und weil ich mich dort verliebt habe.“ Konstantin grinst seine Frau Verena an, die neben ihm in der Werkstatt sitzt. Sie war damals oft in die Therapieeinrichtung gekommen, um einen anderen Patienten zu besuchen. Eines Tages steckte sie Konstantin einen Brief mit ihrer Telefonnummer zu. Wenn er davon erzählt, spricht er schnell und aufgeregt. Noch am selben Tag habe er angerufen und gesagt: „Hallo Verena! Ich komme jetzt sofort!“ Verena lacht. „Er kam im Sturzflug mit dem Fahrrad.“ Danach sei er immer öfter vorbeigekommen.
Und noch etwas Gutes brachte die Therapie mit sich: Konstantin musste ein Praktikum machen und bewarb sich dafür bei einem Raumausstatter. Da machte es auch mit seiner beruflichen Zukunft klick.
Er zog in eine Wohnung und begann – wie Konstantin sagt – „im zarten Alter von 40 Jahren“ eine Ausbildung zum Raumausstatter. Parallel malte er viele Bilder und veranstaltete Ausstellungen. Bald wollte er noch mehr: eine eigene Werkstatt eröffnen. Da das nicht ohne Meistertitel ging, entschied sich Konstantin kurzerhand, die Meisterschule zu besuchen. Denn er hatte jetzt ein Ziel. Er arbeitete viel und hart.
Heute hängt der Meisterbrief eingerahmt im Flur seiner Werkstatt. Konstantin und seine Frau Verena haben sich die Räume der ehemaligen Wohnung für Monteure richtig gemütlich gemacht. In einem großen, hellen Raum hat Verena eine kleine Töpferei eröffnet. Gerade hat sie die Weihnachtskollektion getöpfert. Sie holt blaue, mit Schneeflocken bemalte Tassen und Schalen aus dem Regal. Und auch Konstantin ist in Weihnachtsstimmung. „Ich bin auf den Hirsch gekommen“, sagt er und betrachtet lachend die Wände und Tische in seinem Teil der Werkstatt. Verschiedene Hirschstoffe hängen und liegen hier.
Die Werkstatt finanziert sich noch nicht aus den Verkaufserlösen. Konstantin hat sich deshalb einen Teilzeitjob bei einem anderen Raumausstatter gesucht. Aber das stört ihn nicht. „Das wird schon. Und so haben wir erst mal finanzielle Sicherheit“, sagt er und wirkt dabei zufrieden.
„Was kann es Schöneres geben, als sein eigenes Geld zu verdienen?“ Und noch etwas erfüllt ihn mit Stolz: „Ich bin rauschfrei.“ Na gut, Kaffee brauche er noch – und Kekse, denen könne er einfach nicht widerstehen. Er grinst.
Konstantin zeigt auf einen Stuhl mit pinkem Polster. Den habe er am Straßenrand gefunden. Er hat ihn restauriert und neu gepolstert. Er nickt überzeugt. „Ja, auch Möbel verdienen ein neues Leben.“ Und während er spricht und durch seine Werkstatt geht und erzählt, wie er die Bilder an den Wänden gemacht hat und was er mit welchem Stuhl noch vorhat, wirkt er doch ganz berauscht – vor Stolz und vor Glück.