Wie auch verwirrte Menschen noch am Leben teilnehmen können
(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)
Rund 19.000 Menschen leben in Hamburg mit einem rechtlichen Betreuer – und jedes Jahr werden es rund 1000 mehr. Eine von ihnen ist Margret Berahn (Name geändert). Seit vier Jahren steht ihr bei allen rechtlichen, finanziellen und gesundheitlichen Angelegenheiten Gabriele Warner zur Seite. „Wie viel haben wir noch?“, fragt Frau Berahn, und Gabriele Warner antwortet: „6500 Euro. Anfangs hatten Sie 9500 Euro Schulden.“
Frau Berahn hat schon lange für vieles den Blick verloren – auch für Geld und dessen Bedeutung. „Ganz viel Miete“, erklärt Gabriele Warner, „und etliche Kredite hier und da.“ „Miete?“, fragt Frau Berahn, „nee, das war mir eigentlich nicht bewusst. Das war mir, ehrlich gesagt, scheißegal.“ Betreuerin Warner versucht jetzt, für sie die schwierige Balance zu wahren zwischen Schuldenabbau und den regelmäßigen Zahlungen für Miete und Strom. Sie überprüft den vom Pflegedienst durchgeführten Lebensmitteleinkauf und zahlt Frau Berahn Taschengeld.
Auch psychisch versucht die Betreuerin, Halt zu vermitteln. Margret Berahn ist Anfang 40 und hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich. „Auf wie viele komme ich eigentlich, Frau Warner?“, fragt Frau Berahn nach einer Weile. Sie versucht sich zu erinnern, vergeblich. Gabriele Warner antwortet: „Seit ich Sie kenne, sind es bestimmt schon zehn gewesen.“
Die ausgebildete Juristin arbeitet seit 1997 hauptberuflich als Betreuerin hilfsbedürftiger Menschen. Sie und andere Betreuer helfen Menschen in seelischer Not, die überfordert sind durch die quälenden Anstrengungen des Lebens. Andere sind allein geblieben bei der Bewältigung des Alterns. Die Zahl dementer und psychisch kranker Menschen steigt, die ihr Leben ohne fremde Hilfe nicht mehr selbst gestalten können, was allgemein mit einer sich stetig verändernden Alters- und Sozialstruktur in der Bevölkerung erklärt wird.
Noch bis Ende 1991 konnte kurzerhand entmündigt werden, wer am Leben zu scheitern drohte oder es bereits war. Entmündigung bedeutete: „Vormünder“ bestimmten über das Leben ihrer „Mündel“. Der Wille dieser Menschen wurde nur noch wenig geachtet. Die Vermögensverwaltung stand im Vordergrund, die Gesundheitsvorsorge dagegen wurde oft vernachlässigt.
Betreuen statt bevormunden, so ließe sich die Zielsetzung des jetzt gültigen Rechts überschreiben – nicht mehr über andere Menschen entscheiden, sondern für sie. Die Betreuung soll der betreuten Person ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen, muss dabei deren Willen maßgeblich berücksichtigen. Und: Wer betreut wird, verliert nicht seine Geschäftsfähigkeit, darf weiterhin Verträge abschließen. Wer will, kann zum Beispiel auch heiraten. „Wir müssen rauskriegen, wo die jeweiligen Personen ihre Stärken haben“, sagt Gabriele Warner, „verbliebene Fähigkeiten können wir dann stärken. Und dort, wo fremde Hilfe erforderlich ist, organisieren wir zum Beispiel den Pflegedienst oder auch eine psychiatrische Betreuung.“ Man verstehe sich als Allround-Regler, beschreibt die Profibetreuerin sich und ihre Kollegen. Auch Margret Berahn weiß das zu schätzen.
„Frau Warner merkt das, wenn ich wieder schlecht drauf bin“, sagt sie, „dann kommt sie, und ich muss schnell ein paar Sachen einpacken. Und dann fahren wir sofort nach Ochsenzoll.“ Schon seit Jahren pendelt Frau Berahn vornehmlich zwischen Psychiatrie, Wohnheim und immer wieder auch eigener Wohnung. Eigentlich, bemerkt sie ganz überrascht im Gespräch, war ich jetzt schon lange nicht mehr in der Klinik. Das letzte Mal vor fast sieben Monaten.
Vormundschaftsgerichte haben über die Einrichtung von Betreuungen zu beschließen und jede einzelne spätestens nach fünf Jahren zu überprüfen. Das Gesetz weist vor allem der ehrenamtlichen Betreuung eine große Bedeutung zu. Angehörige, Verwandte, Nachbarn von Hilfsbedürftigen sollen so insbesondere bei einfacheren Fällen in die Verantwortung genommen werden, damit bei der Organisation von Pflege auch der emotionale und soziale Kontakt zur Umwelt nicht abreißt. Knapp die Hälfte der Hamburger Fälle wird deshalb ehrenamtlich betreut. Von diesen rund 9.500 Betreuungen wird wiederum die Hälfte privat im Familien- oder Freundeskreis vorgenommen; die andere Hälfte organisieren ehrenamtliche Betreuer unter der Regie von insgesamt acht Hamburger Betreuungsvereinen. Dennoch verbleiben nach Angabe der Sozialbehörde etwa 9.500 – oft schwerere – Betreuungsfälle, um die sich in Hamburg rund 450 Berufsbetreuer kümmern.
Im Grundsatz habe sich das Gesetz bewährt, heißt es in der Sozialbehörde. Allerdings: Die Kosten steigen immer mehr, so der Sprecher der Justizbehörde, über deren Etat die Berufsbetreuung finanziert wird. Etwa 22 Millionen Mark (11,3 Mio Euro) im Jahr 2001 gegenüber gut 10 Millionen Mark (5,1 Mio Euro) im Jahr 1998. Doch in Hamburg und Berlin wird schon an Änderungsvorschlägen gearbeitet. Ziel: Durch Vorsorgevollmachten und gesetzliche Vertretungsmacht sollen künftig nahe Angehörige dazu verpflichtet werden, für hilflose Menschen im eigenen Familienkreis selbst die Verantwortung zu übernehmen. Gewünschter Nebeneffekt: Deutliche Reduzierung der Ausgaben insbesondere für Berufsbetreuungen. Wer ehrenamtlich betreut, erhält eine jährliche Pauschale von 312 Euro. Die Arbeit von Berufsbetreuern kostet die Länder bis zu 31 Euro pro Stunde.
„Meistens“, sagt Gabriele Warner, die für den Betreuungsverein Hamburg-Nord arbeitet, „haben wir es mit Menschen zu tun, die sich im Blickfeld von anderen befinden.“ Menschen, die auch äußerlich auffällig sind, nachts beispielsweise durch Treppenhäuser irren oder auf der Straße leben. Oftmals kann man einfach nur Schadensbegrenzung betreiben, sagt sie. Aber wenn es gelinge, eine Wohnungskündigung zu verhindern, die nur deshalb ausgesprochen wurde, weil jemand verwirrt ist, dann habe man Gutes erreicht. „Wir wollen nicht zulassen, dass diese Leute als rechtlos dargestellt werden“, sagt Warner, „aber welche Hilfen auch immer wir veranlassen: Dadurch wird jemand nicht wieder jung und gesund. Er wird weiter er selbst sein.“