Drei Tage lang begleitete Hinz&Kunzt-Autor Frank Keil eine Sozialarbeiterin beim Allgemeinen Sozialen Dienst in Wandsbek
(aus Hinz&Kunzt 154/Dezember 2005)
Die Meldung kam anonym per Telefon. Da lebe in einem Haus eine Mutter mit ihrem kleinen Kind – und sei ständig betrunken. Auch würden sich manchmal Männer in der Wohnung aufhalten, gleichfalls alkoholisiert. Oft höre man das Kind weinen. Neulich sei auch die Oma durchs Treppenhaus getorkelt. Laufend rücke die Polizei an. Wer kümmert sich darum?
Wöchentliche Dienstbesprechung im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD), einer Abteilung im Bezirk Wandsbek für Farmsen-Berne sowie die Walddörfer, und diese Meldung steht ganz oben auf einer Liste von 13 Fällen, die heute morgen besprochen und verteilt werden müssen. Sonst noch dabei: zwei Jugendliche, die zu Hause nicht mehr wohnen können und woanders untergebracht werden müssen. Dazu jede Menge Väter, die ihre Kinder sehen wollen, aber die Besuchsregeln nicht einhalten, oder bei denen das Familiengericht vom ASD einen Bericht anfordert, weil ein Prozess zum Sorge- oder Umgangsrecht bevorsteht. Welche Fälle sind dringend, welche haben noch etwas Zeit? Und wer übernimmt was?
Der ASD. Eine Abkürzung, zwei Meinungen. Die tun nichts, die reden nur, da müsste man mal durchgreifen. Oder: Die nehmen einem die Kinder weg, die fackeln nicht lange. Tatsächlich geht es um das Wohl der Kinder und Jugendlichen dieser Stadt. Das in vielen Fällen von den Eltern nicht mehr garantiert werden kann. Zu den akuten Fällen kommt eine Warteliste mit 15 bis 20 weiteren. Die Liste war schon mal länger. Aber auch so kommen die hier beschäftigten Sozialarbeiter kaum zum Luftholen.
Vielleicht wird es bald ein wenig besser: Eine neue Kollegin arbeitet sich gerade ein; eine zweite soll im nächsten Jahr hinzukommen. Die Stellen sind keinesfalls neu geschaffen; sie werden nur endlich besetzt. Was mit daran liegt, dass der Fall Jessica die Öffentlichkeit alarmiert hat. Seitdem ist der Druck spürbar gewachsen. Weniger der Druck auf eine Gesellschaft, in der immer mehr Menschen dauerhaft verarmen, die Bodenhaftung verlieren und es die Schwächsten, die Kinder, trifft. Es wächst der Druck auf den ASD. „Ich sehe schon den nächsten Fall Jessica“, so hat neulich ein Lehrer die Sozialarbeiterin Frau T. angeblufft. Eine ihrer Kolleginnen sagt: „Ich gehe oft freitags erschöpft nach Hause, blättere am Wochenende in Gedanken meine kritischen Fälle durch und hoffe, dass am Montag nichts in der Zeitung steht.“
Rückkehr von einem Hausbesuch. In einer der besseren Straßen. Großes Haus, Putzfrau. Es geht um die 13-jährige Tochter. Die geht aufs Gymnasium. Die letzten Tage aber eben nicht, weshalb sich Rebus, eine Einrichtung der Bildungsbehörde, ans Jugendamt wandte. Was die Kollegin von Frau T. vorfand: ein zutiefst verzweifeltes Mädchen, das ihre Mutter wüst und unflätig beschimpfte, die ihrerseits der Tochter nicht Einhalt gebot. Der Vater ein hohes Tier in der Wirtschaft. Kaum zu Hause. „Verhältnisse sind das“, sagt jemand, aber niemandem ist so recht zum Lachen zumute. Verabredet ist, dass das Mädchen morgen wieder in die Schule geht. Rebus ist informiert. „Ich bin skeptisch“, sagt die Kollegin.
Frau T. hat jetzt ihrerseits einen angemeldeten Hausbesuch: Eine allein erziehende Mutter ohne jede Berufsausbildung mit zwei Kindern; ein Junge sechs, einer acht Jahre alt. Die Mutter lebte als Jugendliche selbst in einer betreuten Wohngruppe. Der Vater der Kinder war früher gleichfalls dem Amt bekannt. Jahrelang hat er sich nicht um die Jungs gekümmert. Vor einem Vierteljahr spitzte sich einiges zu – und der ältere Junge kam kurzzeitig in einer Pflegefamilie unter. Auf Wunsch der Mutter, sie wurde mit ihm einfach nicht mehr fertig. Frau T. will schauen, was nun ist, seit er wieder bei der Mutter ist und regelmäßig zur Schule geht.
Die Wohnung ist rummelig, aber keinesfalls schmutzig. Anders sieht das Kinderzimmer der Jungen aus. Nichts ist mehr in den Regalen. Alle Schubladen sind geleert. Dreckige Wäsche liegt herum, und der Boden ist mit festgetretenen Krümeln und Papierschnipseln übersät. Mal staubsaugen, das reicht nicht mehr. Eigentlich wollte der ältere Junge in seinem Zimmer bleiben – und die Frau T. sei überhaupt superdoof. Doch nun zeigt er ihr seine Autosammlung und erzählt, dass die Schule ganz gut sei. „Der achtjährige Junge ist ein ganz Sensibler; so ein ganz Zarter“, so wird sie ihn später beschreiben.
Frau T. hat einen Vorschlag mitgebracht: aufsuchende Familientherapie. Ein Team würde ein halbes Jahr lang vorbeikommen und schauen, was warum im Argen liegt. „Die räumen aber nicht das Kinderzimmer auf, sondern die werden mit Ihnen eine Strategie entwickeln, wie Sie Ihren Kindern dabei helfen können, dass das Zimmer wieder in Ordnung kommt.“ Nur so als Beispiel. Die Mutter nimmt den Vorschlag positiv auf: „Ich weiß, dass ich Hilfe brauche.“ Sie zeigt in Richtung des Kinderzimmers: „Natürlich geht das so nicht. Aber …“ Sie lässt die Hand wieder sinken.
Der Ältere hockt derweil auf dem Boden und spielt scheinbar selbstvergessen mit einem Feuerwehrauto mit Fernbedienung. Tatsächlich hört er angespannt zu. Das Gespräch kreist jetzt um seinen Vater. In der Pflegestelle hat er wiederholt gesagt, er möchte ihn hin und wieder sehen. Seine Mutter kann sich weiß Gott Besseres vorstellen, als ihm noch einmal zu begegnen. Frau T. weiß noch nicht, wie sie mit diesen beiden Wünschen umgehen soll. Morgen kommt der Vater zu einem Gespräch ins Jugendamt. Wenn er kommt.
Am nächsten Morgen eine erste Zigarette, ein erster Kaffee, ein erster Austausch: Die Schülerin ist nicht zur Schule gegangen. Sie hat sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert. Diese Entwicklung wundert niemanden. Und nun? Das Kind erst mal in Ruhe lassen, lautet die einhellige Einschätzung. Es laste schon genug Druck auf ihr; niemand reagiere in der Familie auf ihre wachsende Verzweiflung. Ganz offensichtlich hätten da die Eltern ein massives Problem je für sich und miteinander und müssten ihrerseits Hilfe annehmen. Doch Vorschläge in diese Richtung habe die Mutter gleich abgebügelt. Und sich stattdessen darum gesorgt, wie ihre Tochter das nachholt, was sie gerade an Unterricht versäumt.
Neuigkeiten gibt es auch bei dem gemeldeten Kind mit seiner tatsächlich oder angeblich trinkenden Mutter. Ein Anruf bei der Polizei ergab, dass es lediglich zu einem einzigen Einsatz wegen Ruhestörung gekommen ist. Was die nun zuständige Sozialarbeiterin jedoch alarmiert: Das Kind ist nur eine Woche in die Kita gegangen. Niemand weiß, warum es nicht mehr kommt. Das sei ein schlechtes Zeichen. Mutter mit Kind zu einem Gespräch einladen oder unangemeldet vor der Tür stehen? Letzteres birgt das Risiko, dass die Mutter auf Konfrontation geht; gleich die Tür zuschlägt, mit niemandem reden und erst recht keine Hilfe annehmen will.
Mag man sich in wohl geordneten Verhältnissen lebend über ein solches Verhalten empören – am Ende müssen die Eltern und der ASD zusammenarbeiten. Nur Druck und Kontrolle führen nicht weiter. Eine zusätzliche Information: Es gibt noch ein Geschwisterkind, das seit längerem in einer Pflegefamilie lebt – und damit gibt es eine Vorgeschichte. Also doch besser hingehen. Gleich morgen Vormittag steht die Sozialarbeiterin vor der Tür. Eigentlich wollte sie da den längst fälligen Bericht über ein Hilfeplangespräch für ein anderes Kind schreiben. Jetzt hat sie gleich ein weiteres Gespräch dieser Art, wo Fachleute vom ASD, der Schule oder dem Kindergarten mit einer Familie beratschlagen, wie es weitergehen könnte. Der Bericht muss warten.
Damit war nicht unbedingt zu rechnen: Wie verabredet steht der Vater des Jungen von gestern in der Tür. Das Gespräch ist nicht einfach. Der Vater will Kontakt zu den Kindern und auch wieder nicht. Und wie soll das auch alles gehen, wo es zwischen ihm und der Mutter immer knallt? Er will erst mal den Jungen zu Weihnachten ein Paket schicken. Um ganz langsam den Kontakt wieder aufzubauen. So wird es vereinbart, als er wieder geht. Ob er das Paket schicken wird? „Vielleicht“, sagt Frau T., „vielleicht auch nicht.“ Sie muss jetzt die Mutter anrufen, den Vorschlag erläutern. Nicht, dass die das Paket nicht annimmt, es zurückgehen lässt und der Konflikt erneut eskaliert.
Es klopft. Ein Vater mit seiner hochschwangeren Tochter betritt etwas verlegen das Zimmer. Frau T. bittet sie, sich zu setzen. Worum geht es? Sie hätten da eine Frage: Kann ein werdender Vater schon vor der Geburt die Vaterschaft anerkennen? „Wo hält sich denn der zukünftige Vater auf?“, will Frau T. wissen. Die Tochter zuckt mit den Schultern. Er sei aber dabei, unterzutauchen. Und dann bräuchte sie dieses Formular, dass er auf keinen Fall das Sorgerecht für das Kind erhält.
Frau T. muss erst mal sortieren: Ein Vater kann die Vaterschaft vor der Geburt durchaus anerkennen, und zweitens gibt es ein solches Formular nicht. Wie der Fall liegt, wird sie das alleinige Sorgerecht haben. Es gebe da übrigens eine Familienhebamme, die bei diesen Fragen berät und bei Geburt und Säuglingspflege hilft. Ob sie mit der mal sprechen möchte? Die junge Frau schüttelt energisch den Kopf. Sie besucht auch keinen Geburtsvorbereitungskurs; braucht sie nicht. „Was reinkommt, kommt auch wieder raus“, sagt sie und versucht trotzig zu lächeln. So viel noch: Die Mutter der jungen Frau wird ihr nach der Geburt helfen; auch kann sie mit ihrem Baby bei ihren Eltern erst mal wohnen bleiben. Dann gehen beide. Frau T. schaut ihnen etwas ratlos hinterher: „Da scheinen sich Probleme anzubahnen.“ Andererseits: „Die Familie weiß, wo man sich Hilfe holen kann, und sie ist von sich aus gekommen. Das allein ist sehr viel wert.“
Frau T. geht wieder zu ihrem Schreibtisch, wo eine Akte liegt, die von einem Jungen erzählt, bei der es weder ein Richter noch zwei Polizeibeamte vermochten, ihn aus der damals völlig desolaten Familie heraus in eine Pflegefamilie zu bringen. Nun ist der Junge mit der Mutter nach Farmsen gezogen. Frau T. ist ab jetzt für ihn zuständig. Schon bald wird sie ihn kennen lernen.