Seit zehn Jahren arbeiten Führungskräfte aus der Wirtschaft über das Programm Seitenwechsel für eine Woche in sozialen Einrichtungen. Die Arbeit mit Obdachlosen oder Drogenabhängigen verändert bei so manchem Topmanager den Blick auf die Welt.
(aus Hinz&Kunzt 212/Oktober 2010)
„Ich kann kaum ausdrücken, wie sehr mich diese Zeit beeindruckt hat“, sagt Andreas Mansfeld. Er sucht nach Worten. „Das war ja eine ganz fremde Welt, ich war jeden Abend voll mit berührenden Geschichten.“ Mansfeld ist Bereichsleiter und Direktor bei der Hamburger Sparkasse, deren Unternehmenskunden er betreut – die ganz großen Fische.
Im letzten Jahr hat der 47-Jährige eine Woche lang bei der Bahnhofsmission und anderen Hilfsorganisationen in der Hamburger City gearbeitet und dabei am Tag und in der Nacht Essen ausgeteilt und mit Armen und Obdachlosen über ihr Leben gesprochen. Er hat am Seitenwechsel-Programm teilgenommen, das Führungskräfte aus der Wirtschaft mit Menschen vom Rande der Gesellschaft zusammenbringt. Das hinterlässt bleibende Eindrücke. „Wenn ich heute durch die City gehe, sehe ich immer noch Leute aus der Zeit“, sagt Mansfeld. „Jetzt weiß ich, wie sie auf der Straße leben, und kann mich besser in sie hineinversetzen. Ich sehe die Stadt mit anderen Augen.“ Es sind Sätze wie diese, für die Doris Tito arbeitet. „Wir bringen Menschen zusammen, die sich sonst nicht treffen würden“, sagt sie. „Wann sonst hört ein Manager etwas aus dem Leben eines Obdachlosen?“ Als die 49-Jährige vor zehn Jahren erfuhr, dass eine Leitung für den Seitenwechsel esucht wurde, bewarb sie sich sofort. Sie war damals Hinz&Kunzt-Geschäftsführerin, die Patriotische Gesellschaft von 1765 hatte das Programm frisch aus der Schweiz importiert. „Das ist eine zeitlos gute Idee“, sagt Tito. „Die sozialen Einrichtungen erreichen mehr Verständnis für ihre Arbeit, und für die Manager ist die Woche eine Bereicherung.“ Etwa 650 Seitenwechsel hat Tito, die selber lange im Management einer Exportfirma tätig war, schon in Hamburg organisiert.
Eine Woche im sozialen Bereich: Für die Manager ist das eine Herausforderung. „Manager sind sehr strukturierte Arbeitstage gewöhnt und werden dafür bezahlt, dass sie Probleme lösen“, sagt Doris Tito. „Plötzlich sind sie wieder Praktikanten und vor allem als Mensch gefragt.“ Der direkte Kontakt mit Menschen, deren Probleme sich nicht so einfach und rational lösen lassen, berührt viele Seitenwechsler. So wurde Andreas Mansfeld während seines Seitenwechsels von zwei Obdachlosen in der Innenstadt wiedererkannt. Sie setzten sich einfach neben ihn auf eine Bank. „Ich war überfordert und ehrlich gesagt auch ein wenig peinlich berührt“, erzählt er. „Aber letztlich hatten wir ein tolles Gespräch, zu dem es sonst nie gekommen wäre.“
Auch Rainer Heydenreich, Mitglied der Geschäftsleitung bei der Schweizer Großbank UBS in Deutschland, hatte eine intensive Begegnung während seines Seitenwechsels. Im Hospiz Helenenstift begleitete er einen Pfleger, der hilft, todkranken Menschen ihre letzten Wochen erträglich zu gestalten. So betreute er einen Mann, der einen Hirntumor hatte und kaum mehr sprechen konnte. „Ich habe ihn gefüttert und mich ohne Worte mit ihm unterhalten“, sagt Heydenreich. „Ich konnte seine Dankbarkeit richtig spüren.“ Seitdem, sagt Heydenreich, weiß er noch mehr einzuschätzen, was in der sozialen Arbeit geleistet wird. Die Wertschätzung ihrer Arbeit ist ein Grund, warum die sozialen Einrichtungen am Seitenwechsel teilnehmen. Oft bekundeten die Manager nach der Woche ihren tiefen Respekt, sagt Axel Mangat, Leiter der Hamburger Bahnhofsmission. „Vor allem aber glaube ich, dass durch solche Programme die Spaltung der Gesellschaft aufgebrochen werden kann.“ Viele der Manager bleiben ihren Einrichtungen auch verbunden: Birgit Wolf, Abteilungsleiterin beim Versandhandel Bonprix, arbeitet zum Beispiel ehrenamtlich im Kinder- und Jugendhaus St. Elisabeth, in dem sie 2004 ihren Seitenwechsel erlebt hat. „Meine Hilfe wird wirklich gebraucht, und ich kann als Außenstehende oft Probleme viel klarer benennen“, sagt die 44-Jährige. An ihrem Arbeitsplatz ist sie heute entspannter, wenn es mal Probleme gibt und etwas nicht läuft wie geplant. „Ich bin einfach gelassener gegenüber meinen Mitarbeitern“, sagt sie.
Auch die Seitenwechsler geraten durch das Programm ins Grübeln. Die Probleme ihres Arbeitsalltags werden relativiert, gewohnte Kategorien geraten ins Wanken. Konrad Ellegast, damals Vorstandsvorsitzender der Phoenix AG Harburg, verteilte während seines Seitenwechsels bei Hinz&Kunzt mit dem Mitternachtsbus Lebensmittel. Am Jungfernstieg passte er auf die Sachen eines Obdachlosen auf. „Plötzlich kommen da zwei ältere Damen mit Pelzmänteln vorbei, die sich darüber unterhalten, dass ich für einen Obdachlosen noch ganz gut aussehe“, sagt der 70-Jährige. „Ist doch irre, wie schnell man in einer Schublade landet.“ Danach habe er viel über seine eigenen Vorurteile reflektiert, sagt Ellegast. Als er verstanden hatte, dass es ganz normale Menschen mit gewöhnlichen Lebensläufen sind, die durch Schicksalsschläge oder Suchtprobleme auf der Straße landen, nahm er auch die Probleme in seiner Firma ernster und stellte seinen Mitarbeitern einen Suchtberater zur Seite. „Ich habe viele Kurse und Ausbildungen gemacht, aber nirgendwo habe ich so viel gelernt wie bei meinem Seitenwechsel“, sagt er.
Einen anderen Blick auf die Welt hat heute auch Thomas Magold, der als damaliger Leiter der Hamburger BMW-Niederlassung eine Woche in einer Drogenberatungsstelle arbeitete. Danach überzeugte er einige Kollegen, seinem Beispiel zu folgen. „Wir leben ja in einer Scheinwelt voller glänzender Autos“, sagt er. „Das Miteinander hat sich wesentlich verbessert, nachdem einige Kollegen auch mal die andere Seite der Gesellschaft gesehen hatten.“
Text: Hanning Voigts
Foto: Cornelius M. Braun
Seitenwechsel ist ein bundesweites Programm zur Fortbildung von Managern. Die nächste Runde beginnt Ende November. Anmeldung und weitere Informationen unter www.seitenwechsel.com