Jedes Jahr sterben Menschen in Hamburg auf der Straße. Viele von Ihnen werden ohne Trauergäste und Zeremonie bestattet. Am Sonntag in Eimsbüttel werden sie dennoch verabschiedet. Pastor Helmut Kirst leitet den Gedenkgottesdienst.
Hinz&Kunzt: Herr Kirst, wer sind die Menschen, derer Sie am Sonntag in der St. Bonifatius-Kirche gedenken?
Helmut Kirst: Wie in den übrigen Jahren haben wir etwa 100 Namen von Verstorbenen, die verlesen werden. Das sind nicht nur Menschen, die auf der Straße gestorben sind, also zum Zeitpunkt ihres Todes obdachlos waren. Es können auch Menschen sein, die im Krankenhaus oder in einer Unterkunft waren oder Menschen, die auf einer Parkbank verstorben sind. Was die Verstorbenen verbindet, ist, dass sie in Obdachlosigkeit oder Wohnungslosigkeit gelebt haben.
H&K: Wie läuft der Gedenkgottesdienst ab?
Kirst: Natürlich in Corona-Zeiten anders als sonst. Wir feiern in der St. Bonifatius-Kirche, weil sie größer ist und deshalb mehr Menschen zugelassen sind als in der Christuskirche in Eimsbüttel, wo wir sonst in diesem Jahr gewesen wären. Wir werden alle mit Mund-Nasen-Schutz da sein. Und wir haben geplant, dass der Gottesdienst etwa eine Viertelstunde in der Kirche stattfindet, danach kommt die Verlesung der Namen. Die Besucherinnen und Besucher erhalten eine kleine Kerze, und mit jedem Namen geht eine Person mit der Kerze nach vorne zum Altar, entzündet sie und stellt sie dann dort ab. Dann gehen die Menschen aus der Kirche heraus. Falls mehr gekommen sind, als in die Kirche hinein durften, können sich die Wartenden der Prozession anschließen und auch ein Licht anzünden. Am Schluss versammeln wir uns im Innenhof von St. Bonifatius zu Gebet und Segen.
H&K: Welche Momente sind bei so einem Gottesdienst für Sie besonders wichtig?
Kirst: Der Moment, wenn wir die Namen verlesen. Manchmal ist es auch nur der Vorname oder ein Spitzname. Das sind emotional die dichtesten Momente im Gottesdienst. Was auch wichtig ist: Wir sammeln eine Kollekte. Das Geld ist für Verstorbene gedacht, die ein Sozialbegräbnis bekommen, weil die finanziellen Mittel für eine Beerdigungsfeier nicht da sind. Sie bekommen dann zumindest einen von den Spenden finanzierten kleinen Grabstein mit ihren Namen und ihren Lebensdaten. So wird doch eine persönliche Erinnerung an den Menschen möglich, auch wenn es keine Angehörigen oder Freunde gibt, die das Geld für einen Grabstein aufbringen können.
H&K: Kannten Sie die Verstorbenen alle persönlich?
Kirst: Das ist unterschiedlich. Manche der Verstorbenen waren bei uns in den Gemeinden bekannt und wurden in der in der Wohnungslosenhilfe der Diakonie oder der Caritas begleitet. Die Menschen, die dort engagiert sind, gestalten den Gottesdienst mit. Oft hatten sie direkten Kontakt zu den Verstorbenen. Auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind die Gottesdienste ein wichtiger persönlicher Abschied. Es kann aber auch sein, dass Namen von Verstorbenen verlesen werden, von denen niemand weiß, wer sie waren und wie es ihnen in ihren letzten Stunden ging.
H&K: Wissen Sie, wie die Menschen zu Tode kamen, an die Sie im Gottesdienst erinnern?
Kirst: Die Beschäftigten in der Wohnungslosenhilfe, die mit den Menschen direkt zu tun hatten, wissen das in den meisten Fällen. Bei vielen weiß man es aber auch nicht. Was bekannt ist: Die Menschen, die keine eigene Wohnung haben, sterben früher. Weil sie finanziell nicht so gut ausgestattet sind wie andere und angewiesen sind auf Transferleistungen des Staates, sind sie oft medizinisch nicht so gut gestellt. Auf der Straße kommen die widrigen Lebensumstände hinzu, oft auch Alkoholprobleme. Bei unserem Gottesdienst gedenken wir oft Menschen, die recht jung verstorben sind.
H&K: Sie leiten den Gedenkgottesdienst schon seit langer Zeit und tun es in diesem Jahr zum letzten Mal. Wie bereiten Sie sich darauf vor?
Kirst: Ich bin viele Jahre schon als Pastor tätig und habe seit langem mit obdachlosen und wohnungslosen Menschen zu tun. Früher war ich tätig in der Kirche an der Königstraße. Ich habe dort auch gewohnt und hatte sehr viele Menschen vor der Tür, die die Kirchengemeinde um Hilfe gebeten haben – um Übernachtung, um soziale Unterstützung oder um andere Formen der Begleitung. In den 90er Jahren haben wir uns als Gemeinde in Kooperation mit dem diakonischen Werk beteiligt am Winternotprogramm und an den Kirchenkaten. Wenn ich dann so einen Gottesdienst wie den am Sonntag gestalte, wird da auch innerlich vieles wach. Mir ist wichtig, dass wir einen würdigen Abschied gestalten, aber dass wir auch versuchen, Verständnis zu entwickeln für die Situation, in der obdachlose und wohnungslose Menschen leben und dass wir ihnen mit Achtung begegnen.
Gedenkgottesdienst
H&K: Rechnen Sie damit, dass auch Angehörige oder Freunde zum Gedenkgottesdienst kommen?
Kirst: Meine Erfahrung ist, dass auch Menschen kommen, die selber obdachlos oder wohnungslos sind und die auch einige der Verstorbenen kannten. Ebenso kommen engagierte Haupt- und Ehrenamtliche, die in der Wohnungslosenhilfe tätig sind. Und es kommen Gemeindemitglieder, die obdachlosen Menschen auf der Straße begegnen und manchmal auch mit ihnen ins Gespräch kommen. Über Hinz&Kunzt zum Beispiel entstehen ja auch viele Kontakte, das finde ich sehr positiv. Dass Angehörige kommen, ist eher vereinzelt der Fall.
H&K: Sind Ihnen bestimmte Schicksale oder Ereignisse besonders in Erinnerung geblieben?
Kirst: Ja, allerdings war das bei einer anderen Gedenkfeier. Wir machen ja auch manchmal Trauerfeiern für Menschen, wo die finanziellen Mittel für ein Begräbnis nicht da sind und die dann eine sogenannte Sozialbeerdigung bekommen. Bei einer dieser Abschiedsfeiern in Öjendorf habe ich etwas sehr Schönes erlebt: Ich fing als Pastor an, ein wenig vom Leben des Verstorbenen zu erzählen, als plötzlich jemand sagte: „Ja, und ich erinnere mich auch noch daran, dass…“ Und einem dritten fiel auch noch etwas ein. So wurden verschiedene Facetten des Verstorbenen benannt durch die Menschen, die ihn gekannt hatten. Das fand ich sehr bewegend, dass in dieser kleinen Gruppe auf einmal so ein Gespräch entstand.
H&K: Wie erleben Sie als Pastor die Auswirkungen der Pandemie auf arme oder obdachlose Menschen?
Kirst: Durch die Corona-Situation wurde das Winternotprogramm verlängert, auch in den Containern unserer Gemeinde. Da haben wir gemerkt, wie froh die Menschen bei uns waren, einen geschützten Raum zu haben. Das scheint mir gerade in der Coronazeit für viele sehr schwierig zu sein: einen Rückzugsort zu finden, wo man sich geschützt fühlt. Es gibt ja schon ohne Corona immer weniger Orte, wo Menschen sich aufhalten können, ohne dass man etwas bestellen oder bezahlen muss. In diesem Jahr waren und sind auch die Tagesaufenthaltsstätten zum Teil nicht mehr geöffnet oder nur noch eingeschränkt geöffnet. Viele Menschen sagen auch, dass sie nicht in die Unterkünfte wollen, wo so viele auf einmal zusammenkommen. Daher wäre es gerade jetzt besonders wichtig, dass individuelle Rückzugsräume geschaffen werden.